Freibrief von Julya Rabinowich: Freibrief an mich, die Liebende und Hassende
Etwas ist faul im Staate Österreich, findet Julya Rabinowich. In ihrer Kolumne wagt sie es, frei zu träumen. Denn wenn sie träumt, kann sie Utopien fordern.
Ein Freibrief ist genehmigte Grenzüberschreitung. Quasi eine Fasnacht der Vernunft. Etwas ganz anderes als der Schlaf ebendieser, der Monster gebiert. Das Monster sind wir schon selbst, das Monster bin also auch ich.
Mein Vernunft-Schlaf gebiert nichts außer Träume. Tagträume und Wunschträume und Albträume. Also falls Hamlet genauer wissen will, was in dem Schlaf für Träume kommen mögen. Er hat mich leider nie gefragt. Andererseits, wenn ich eine solche Anfrage von Hamlet, Prinz von Dänemark, erhalten würde … Vermutlich wäre ich nach kurzer Freude recht verunsichert. Nein, es ist wirklich besser, er fragt mich nicht! Aber ich frage mich. Muss mich fragen und will es auch. Ich frage mich, wohin mein Leben geht, das in einem sanften Strom fremder Leben dahinfließt, vorbei an Stromschnellen und Katarakten.
Ich bin privilegiert. Ich lebe in einem vorläufig sicheren Land. Einem Land, das in keine Kriegshandlungen verwickelt ist. Einem Land, in dem keine Todesstrafe auf allzu Aufmüpfige wartet. In meinem Land werden Frauen nicht verschleppt, gefoltert, ermordet, weil sie es wagen, das erzwungene Kopftuch abzulegen. In meinem Land ist medizinische Behandlung immer noch leistbar. In meinem Land gibt es keine Kinderarbeit. Unsere Kunst ist eine, die keiner Säuberung unterliegt, weder religiöser Säuberung noch einer politischen. Die Fassaden meiner Straßenzüge sind intakt, drinnen brennen abends weiche Lichter, Menschen sind dort zu Hause und erwarten nicht, vielleicht den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben. Alte Menschen haben Unterschlupf und Betreuung, sie müssen nicht abends ihre Schlafsäcke ausrollen in U-Bahn-Unterführungen und auf geschäftigen Boulevards. Sie könnten ein Dach über dem Kopf haben, ein geliehenes Dach einer Notunterkunft wenigstens. Es könnte schlimmer sein. Viel schlimmer sein. Das ist eine Seite.
Freibrief von Julya Rabinowich: Kunst muss nie fragen, was sie darf
Was ist Kunst und was darf sie? Die Autorin Julya Rabinowich stellt sich diesen Fragen. Weiterlesen...
Die andere Seite ist dunkler. Ja, wir sind frei, aber die Werte unserer Pressefreiheit rasseln weiter runter. Ja, wir sind abgesichert, aber das Leben wird teurer und teurer, Menschen verarmen, Menschen haben Angst. Ja, die Bildung ist gratis, aber das Ungleichgewicht zwischen Privatschulen und Brennpunktschulen ist eklatant. Bildung wird in unserem Land nach wie vor vererbt wie ein goldener Pokal. So schön funkelt er in der Ahnengalerie, gut geschützt von dem Glas, aus dem auch die gläserne Decke besteht, eine Augenweide. Aber die, die keine Bildung vererbt bekommen, erben dennoch etwas: die Armut ihrer Vorfahren.
Wir töten unsere Frauen, wir tun das so gründlich, dass wir federführend in Westeuropa in dieser Betätigung geworden sind. Diese Sache mit der Trennung von Religion und Staat, die wir gerne anderen weltweit vorwerfen, erledigen wir ab und zu selbst nicht sehr erfolgreich. Unsere Politik füttert an und hungert aus.
Ich darf träumen, solange mich Hamlet nichts gefragt hat. Ich muss ihm dann nicht sagen müssen: Etwas ist faul im Staate Österreich. Ich habe einen Freibrief, ich bin frei zu träumen. Wenn ich träume, kann ich Utopien fordern. Ich kann im Elfenbeinturm eine Airbnb-Unterkunft bezogen haben und, etwas geblendet von der Sonne, über eine herrliche Landschaft blicken, die Österreich werden könnte. Dieses funkelnde neue Österreich ist ja ein Samenkorn, das bereits existiert. Es muss nur gehegt und gepflegt werden, gegossen und genährt, gehätschelt, beschützt und fertiggedacht.
Es ist etwas, dessen Entstehung man herbeisehnt. Ein gleicheres Österreich. Ein ausgewogeneres Österreich. Ein Österreich, das offener wird. Fairer. Ein Österreich, das politisch konsequenter sein kann. Das Populisten und Populistinnen nicht großmacht, weil auf die gehört wird, die die vernünftigste Stimme haben und nicht die lauteste. Ja, ich träume. Und die lautesten Stimmen zerstören meinen Schlummer.