Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit
In fast drei Jahren Corona ist eine ganze Generation von Nachwuchsbesucher*innen dem Theater verloren gegangen. Das Theater der Jugend will sie zurückzuholen. Mit einem Programm, das so breit aufgestellt ist wie nie zuvor – Thomas Bernhard inklusive.
Verzeihen Sie, aber ich muss es loswerden! Kettenreaktionen sind kacke. Man benötigt dafür gar nicht das Bild mit dem Schmetterling in China und dem darauffolgenden Sturm in Paris. Es reicht eine Pandemie, und schwuppdiwupp fehlt eine ganze Generation an Theatergeher*innen. Kinder von engagierten theaterbegeisterten Eltern einmal ausgenommen.
Generationenforscher Rüdiger Maas hat eine Studie über die „Generation Alpha“ durchgeführt und dazu 1.231 Eltern, Pädagog*innen und Grundschullehrer*innen zu ihrer Wahrnehmung der Corona-Generation befragt. Das Ergebnis: 40 Prozent der Kinder zeigen Auffälligkeiten im sprachlichen Bereich, 19 Prozent im motorischen und 30 Prozent im sozialen. Oder, wie es Maas trocken auf den Punkt bringt: „Unser erstes Fazit aus der Studie ist, dass die Gruppe der Kita- und Grundschulkinder in der Pandemie vergessen wurde. Es gab noch nie so viele unglückliche Heranwachsende unter zehn Jahren wie heute. Das liegt zum einen an der vorherrschenden Überbehütung durch ihre Eltern, an der permanenten digitalen und auch erzieherischen Übersättigung, die Kinder, die sich nie langweilen sollen, erfahren. Auch der Fakt, dass Eltern ihren Kindern in allem ein Mitspracherecht geben, tut gerade den Kleinsten nicht gut.“
Premieren 2022/23 im Theater der Jugend
Schwierige Themen werden in interessante und komödiantische Unterhaltung verpackt. „Nicht nur das Hirn will versorgt und herausgefordert werden, sondern auch das Herz und die Seele!“ so Direktor Thomas Birkmeir zum neuen Programm. Weiterlesen...
Wir stehen hier in einer kleinen Seitengasse der Neubaugasse im siebten Wiener Gemeindebezirk, der Mondscheingasse. Hier ist eine der wichtigsten analogen Kreativfabriken für Kinder und Jugendliche: das Renaissancetheater. Seit 1920 heißt das Theater der Jugend so, und damals spielte der große kleine Hans Moser hier. Vierzig Jahre war er damals alt, und erst zwei Jahren später wurde er von Robert Stolz und vor allem Max Reinhardt entdeckt. Ein Theater für Entdeckungen ist das Theater der Jugend noch immer: von Schauspieler*innen, die hier ihre ersten Engagements haben, und für junge Menschen, die hier das erste Mal mit Theater in Kontakt kommen.
Fragezeichen einer Gesellschaft
Für das BÜHNE-Fotoshooting haben wir eine Kutschenrequisite neben ein Parkverbotsschild gestellt. Thomas Birkmeir, der Direktor, und Gerald Bauer, sein Chefdramaturg, blödeln für die Kameras herum – dabei beschäftigen Birkmeir gerade gar nicht so lustige Überlegungen. „Es sind im Moment so viele Ängste da: Inflation, Krieg … Das sind alles ernst zu nehmende Themen.“ Das Aber, das er dann anfügt, ist ein langes, und über allem steht das große Fragezeichen, wie man jene, auf die die Gesellschaft gern vergisst – nämlich die Kinder und Jugendlichen – wieder ins Theater bringt und damit die vorhin beschriebene Kettenreaktion verhindert. Nämlich eine Erwachsenenwelt ohne Theaterbegeisterte.
Am Programm, das Birkmeir und Bauer für die kommende Saison zusammengestellt haben, sollte es nicht liegen. Es ist so bunt, dass es selbst die düstersten Zeiten in einen Regenbogen verwandeln könnte: Von Christine Nöstlinger bis zu Thomas Bernhard spannt sich der Bogen, dazwischen Musicals.
Jugendtheater: Wie bekomme ich mein Kind vom Handy weg?
Wie kriegt man unsere Kinder ins Theater? Theater der Jugend-Direktor Thomas Birkmeir antwortet. Weiterlesen...
Wir sitzen wieder in Birkmeiers Büro, gemeinsam mit ihm und Bauer wollen wir die geplanten Premieren durcharbeiten.
„Honk!“, die wundervolle Geschichte der falschen Ente, die zum schönen Schwan wird, ist die Auftaktproduktion. Eine Kurzfassung des Inhalts: Im Nest von Erwin Erpel und Mama Ida liegt plötzlich ein großes Ei. Anstelle eines quakenden Babys schlüpft ein honkendes Etwas heraus. Achtung, Spoiler: Dieses kleine Etwas wird am Ende des Stücks und nach vielen Abenteuern zum schönen Schwan.
„Es ist ein Stück über Bodyshaming. Jemand wird gemobbt, weil er anders ist als die anderen. Er findet sich hässlich und unpassend, und am Ende ist er der Schönste von allen. Wir leben in einer Welt, in der sich schon Kinder zu dick fühlen. Wir setzen dem etwas entgegen.“ Birkmeir und Bauer haben ein großes Herz für die mutmaßlichen Außenseiter, für jene, die nicht der Norm entsprechen wollen oder können. Sie sind Botschafter des Pippi Langstrumpf’schen Lebensprinzips.
„Rico, Oskar und die Tieferschatten“ passt da genau hinein. Andreas Steinhöfel ist der Autor der Bestseller-Reihe. Neele Vollmar hat es zu einem Kinohit gemacht, und jetzt eben und endlich kommt es ins Theater der Jugend. Der „tiefbegabte“Rico und der schlaue Oskar sind Freunde, und als Letzterer entführt wird, kippt die rasante Geschichte in einen aberwitzigen Kriminalfall. „Der Autor hat in dem Stück die wahre Geschichte seines Freundes, der Legastheniker war und sehr früh starb, verarbeitet“, sagt Dramaturg Bauer, und Direktor Birkmeir setzt nach: „Die beiden Hauptfiguren sprengen die Intelligenzketten und Parameter, die wir so kennen, und es wird die Frage aufgeworfen, ob unser Schulsystem richtig liegt, wenn es Kinder mit zehn Jahren in verschiedene Schulsysteme trennt.“
Musicalhit & Thomas Bernhard
Wir lassen diese Frage im Raum stehen und gehen zum nächsten Stück – es müsste ein Höhepunkt der kommenden Saison werden. Peter Lund, preisgekrönter Musicalautor und höchst erfolgreicher Ex-Theaterdirektor aus Berlin, hat es – wie so oft andere Bühnenwerke zuvor – gemeinsam mit Wolfgang Böhmer geschrieben. „Frau Zucker will die Weltherrschaft“ ist ein Musical, das eine an „Hänsel und Gretel“ angelehnte Geschichte in die heutige Zeit versetzt. Das Knusperhäuschen ist hier ein Mietshaus. Hier lebt Frau Zucker. Sie ist eine Kinderhasserin, die sich als liebevolle kostenlose Babysitterin anbietet. In Wirklichkeit will sie Kindern – mithilfe modernster Technik – die Energie entziehen. Ihre Komplizin ist Frau Doktor Giftig, eine Therapeutin, die in Wirklichkeit selbst ein zehnjähriges hochbegabtes Kind ist.
Sie will sich an den anderen Kindern rächen, weil sie nie mitspielen durfte (ja, so einfach ist es manchmal). Enttarnt werden die Machenschaften von Meg, einem empathischen Mädchen, dem aber – zunächst – niemand glaubt. Thomas Birkmeir: „Die Frage ist: Welche Energien werden uns abgesaugt dadurch, dass man uns schon als Kindern sagt, wie man sich benehmen muss und was man alles tun oder lassen sollte.“„Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse“, Christine Nöstlingers Meisterwerk aus den Siebzigern, ist die Geschichte der chaotischen Frau Bartolotti, die per Post eine Konservendose geliefert bekommt, in der Konrad steckt – ein schrecklich ordentliches und perfektes Kind.
Die Uraufführung im Theater der Jugend geriet übrigens (man kann es sich nicht mehr vorstellen) zum Skandal, weil katholische Verbände dagegen mobilmachten. Birkmeir: „Ich halte es für pädagogischen Unsinn, Kinder altersgerecht aufzuziehen. Es gibt die wunderbare Geschichte jener Mutter, die mit ihrem Kind um die Welt gereist ist und sich angeschaut hat, wie bei Urvölkern Kinder erzogen werden, und sie hat gesagt, dass all diese Gesellschaften eines gemein haben: Kinder werden nicht ins Kinderzimmer mit pädagogisch wertvollen Sachen gesteckt, sondern sie sind schon ganz früh bei den Erwachsenen dabei und lernen, Verantwortung zu übernehmen – sie werden nicht von der Ängstlichkeit der älteren Generation erzogen.“
Eines der spannendsten Projekte wird sicher das Stück „Kind“ nach Thomas Bernhards gleichnamigem autobiografischen Roman. Es erzählt unter anderem jene berühmte Geschichte, wie Thomas Bernhard mit dem Rad seines Vormunds nach Salzburg fahren will und wenige Kilometer vor dem Ziel stürzt und seine Flucht scheitert. Gerald Maria Bauer hat das Stück für die Bühne eingerichtet und wird auch Regie führen: „In ‚Kind‘ ist ein anderer Bernhard drin als in seinen Stücken. Wer es liest, ist ganz erstaunt von der totalen Zärtlichkeit dieses Buches, und es hat eine unglaubliche Musikalität, da darf man keinen Satz ändern. Es wird kein ausdialogisiertes Illustrier-Theater. Man kann nur Situationen schaffen. Letztendlich ist es ein Gedankenraum, und genau das kann Theater.“