Wer an Berauschung denkt, hat vermutlich rasch die ein oder andere durchtanzte Nacht im Kopf – wummernde Beats, dicht aneinandergedrängte Körper, die beinahe symbiotische Verbindung von Bier- und Schweißgeruch. Vielleicht auch: der Kater am nächsten Tag, das verlorene Handy, der erste Bissen Toastbrot irgendwann nachmittags, später Tiefkühlpizza und Wohlfühlserie. Berauschung kann aber auch bedeuten, kurz mal aus dem fahrenden Zug raushüpfen zu wollen – kann eine Antwort auf den immer dringlicher werdenden Wunsch nach einer kurzen Auszeit sein. „Nach ein bisschen Urlaub im Kopf“, bringt es Benjamin Kornfeld auf den Punkt. Wir sitzen im „Espresso“ in der Burggasse. Draußen ist es klirrend kalt, doch von ihm und dem Rest des Fiese Matenten Kollektivs – den Schauspielerinnen Christiani Wetter und Claudia Carus und dem Musiker Bernhard Hammer – geht eine angenehme Wärme aus. Der kleine Ofen im hinteren Raum des „Espresso“ tut sein Übriges dazu.

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Das Gespräch findet wenige Stunden vor der Generalprobe von „Weil es knallt“ statt, der aktuellen Arbeit des Kollektivs, die noch bis 22. November im Off Theater in der Kirchengasse zu sehen ist. Im Stück geht es um moderne Suchtkultur – um Berauschung, aber auch um jenen Punkt, an dem aus dem hin und wieder aufkeimenden Wunsch nach Flucht ein Netz aus Ausflüchten wird. Nicht nur der große, ultimative „Kick“ wird unter die Lupe genommen, sondern auch die subtileren Abhängigkeiten beleuchtet: der ständige Drang zur Produktivität, die Suche nach Bestätigung in sozialen Medien oder in flüchtigen zwischenmenschlichen Beziehungen.

Darüber hinaus werden auch Ausflüge ins Tierreich unternommen. „Wir sind nicht die einzigen Lebewesen, die dem Alltag entfliehen wollen“, hält Christiani Wetter fest. „Delfine berauschen sich beispielsweise an Kugelfischen“, fügt Benjamin Kornfeld lachend hinzu.

Weil es knallt
Weil es knallt: Noch bis 22. November im Off Theater in der Kirchengasse.

Foto: Bettina Frenzel

Urlaub im Kopf

Die Idee für den sowohl performativen als auch dokumentarischen Abend sei während einer Residency entstanden, spult Claudia Carus an den Beginn des Projekts zurück. „Wir haben viel ins Boot geworfen und sind dann sehr schnell auf das Thema Rausch und Suchtverhalten gekommen. Eine der Initialzündungen war vielleicht auch, dass ich zu dieser Zeit aufgehört habe zu trinken. Ich habe also auch einen persönlichen Kampf geführt. Der Abend ist teilweise auch sehr persönlich geworden.“

Wahrscheinlich hätten Menschen schon immer Mechanismen und Werkzeuge gehabt, um dem Alltag entfliehen zu können, allerdings seien die andauernde Informationsflut und der aktuell sehr präsente Drang nach Selbstoptimierung, zwei Dinge, die den Wunsch nach Berauschung zusätzlich befeuern würden, so Christiani Wetter. „Nun ist es jedoch so, dass Suchtverhalten manchmal gesellschaftlich akzeptiert ist und manchmal nicht. In der Recherchephase zum Stück haben wir mit Mitarbeitenden der Suchthilfe Wien gesprochen, die meinten, dass es, solange man noch funktioniert und für das Bruttoinlandsprodukt da bist, völlig in Ordnung sei, eine Form von Suchtverhalten zu haben. Eine tatsächliche Sucht wird es erst dann, wenn das nicht mehr der Fall ist.“

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Benjamin Kornfeld nickt zustimmend und ergänzt: „Ich glaube auch, dass das Verlangen danach, sich eine Insel zu schaffen, häufig auf eine gewisse Überforderung zurückzuführen ist. Es ist nun einmal so, dass sich unser Gehirn vor rund 30.000 Jahre das letzte Mal erneuert hat. Allerdings prasselt heute einfach unglaublich viel auf uns ein und wenn wir denken, dass wir dazu in der Lage wären, das alles zu verarbeiten, ist das oft eine Illusion.“

Calexico

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Auf Augenhöhe mit dem Publikum

Bei den Stücken des Fiese Matenten Kollektivs verbinden sich meist intensive Recherchearbeit und persönliche Erfahrungen zu einem Theaterabend. „Ich glaube, dass Empathie dann entstehen kann, wenn man sich angreifbar macht und Verletzlichkeit zeigt“, sagt Christiani Wetter, die davon überzeugt ist, dass wir genau das gegenwärtig dringend brauchen – „und eben nicht das andauernde Vorgaukeln von Perfektion und Unverwundbarkeit.“

Dazu gehört auch, keinesfalls mit erhobenem Zeigefinger ins Publikum zu predigen. Vielmehr sei ihr Abend eine Form von Bestandsaufnahme, die es möglich macht „auf Augenhöhe mit dem Publikum in den Diskurs zu gehen", vervollständigt Claudia Carus den Gedanken ihrer Kollegin.

Die persönlichen Geschichten sind in eine durchaus knallige Ästhetik eingebettet und Bernhard Hammer hat einen technolastigen Soundtrack geschaffen. „Wir wollten ein Stück machen, wo wir selbst auch Bock hätten, reinzugehen. Mit cooler elektronischer Musik und mit einer Ästhetik, bei der man hängenbleibt“, ergänzt Wetter und blickt zu ihrer Kollegin Claudia Carus, die hinzufügt: „Wir spielen keine richtigen Figuren, sondern leihen verschiedenen Charakteren und Thematiken unsere Körper und Stimmen.“

Für die Musik zeichnet Bernhard Hammer verantwortlich, auch bekannt von der Techno-Formation Elektro Guzzi. Ihm ginge es in seiner Arbeit sehr um den Live-Aspekt, sagt er mit ruhiger Stimme. „Mir ist der Habitus beim Machen total wichtig, das Gefühl, das ich beim Musikmachen habe. Und das Spielerische. Ich bin gerne im Moment und in Bewegung. Was dabei herauskommt ist ein Ergebnis dieser Haltung – das ist dann einfach so, wie es ist. Deshalb arbeite ich auch nicht mit Laptop, sondern mit meiner Drum Machine, meinem Sampler, meiner Gitarre und einem Bass-Synthesizer.“ In diesem spielerischen Ansatz spiegle sich auch die Art und Weise wider, mit dem sich das Stück dem Themenkomplex rund um Sucht und Berauschung widmen möchte. „Dem Thema Raum zu geben, indem man locker drüber spricht, ohne Angst und Scham“, bringt es der Musiker auf den Punkt.

Stilistisch ist die Musik an jenen Sound angelehnt, den man von Besuchen in Technoclubs kennt. „Mich interessiert das Rauschhafte und Rituelle an Clubmusik, in der ich mich musikalisch auch stark verwurzelt fühle. Es geht weniger um eine bestimmte Melodie, sondern vielmehr um eine Klangerfahrung“, so Hammer.

An der Zusammenarbeit mit den drei Spielenden, die das Stück auch selbst inszenieren, schätzt er, dass es ein gemeinschaftlicher Entwicklungsprozess war. „Im Grunde fühlt es sich an wie in einer Band“, merkt er lachend an.

Den Gedanken, dass kompositorische Arbeit „allein im stillen Kämmerlein stattfindet“, hält er ohnehin für überholt. „Allerdings ist das nach wie vor die vorherrschende Meinung. Es gibt auch kaum Förderungen dafür, wenn man musikalisch gemeinsam etwas entwickeln möchte – die klassische Band-Konstellation einmal ausgenommen.“

„Claudia und ich hatten es satt, in irgendwelche Frauenrollen hineingepresst zu werden oder irgendwelche Damsels in Distress zu spielen.“

Christiani Wetter

Bildet Banden!

Bevor sich die vier Künstler*innen wieder auf den Weg ins Off Theater machen, wollen wir noch von ihnen wissen, wie es zur Gründung des Fiese Matenten Kollektivs kam. „Claudia und ich hatten es satt, in irgendwelche Frauenrollen hineingepresst zu werden oder irgendwelche Damsels in Distress zu spielen. Wir hatten keine Lust mehr darauf, dass uns jemand sagt, ob wir zu alt oder zu jung für bestimmte Rollen sind und welche Geschichten erzählt werden sollen. Denn es gibt so unglaublich viele Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden“, findet Christiani Wetter, die nach dem Schauspielstudium gemeinsam mit Claudia Carus am Salzburger Landestheater engagiert war, klare Worte.

Für Benjamin Kornfeld ist Selbstwirksamkeit ein Schlüsselwort. „Sagen zu können: Ich habe eine Idee, ich habe ein Kollektiv, wir machen das jetzt. Und dann als Gruppe etwas zu schaffen und nicht auf den Anruf zu warten. Selbst etwas tun und Banden bilden!“

Zu den Spielterminen von „Weil es knallt“ im Off Theater!