Wenn der Sommer vorbei ist und die neue Saison beginnt, trudeln normalerweise auch die Jobs ein. Heuer kam nichts. „Es war ein wenig angsteinflößend“, sagt Pauline Richard. Ihr letzter Auftrag, ein kurzer Videodreh, liegt drei Monate zurück. Das Datum, an dem ihre Show am renommierten Pariser Theater Folies Bergère abgesagt wurde, weiß sie noch auswendig. Es war der 13. März. Kurz darauf trat der erste landesweite Lockdown in Kraft. Bis Ende April hätte sie noch in dem Stück, für das sie monatelang geprobt hatte, tanzen sollen.

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Die 22-jährige Ballerina ist eine von Frankreichs rund 276.000 Kulturschaffenden, die als sogenannte „Intermittents du spectacle“ (wörtlich Intermittierende des Spektakels) ihren Lebensunterhalt verdienen. Der Begriff steht für „unregelmäßig“ oder „zeitweilig aussetzend“, und spiegelt die Lebensrealität von Menschen, deren Arbeit kommt und geht, die sich von Auftrag zu Auftrag, von Konzert zu Fernsehsendung, von Theatervorstellung zu Filmdreh angeln. Nicht nur professionelle Tänzerinnen, wie Richard, auch Musikerinnen, Schauspieler, Bühnenbildnerinnen, Kameraleute, Regieassistenten oder Tontechniker fallen in diese Kategorie.

507 Stunden Arbeit in der Kultur

Über ihren Köpfen schweben eine Zahl sowie ein Datum, das sie liebevoll und ehrfürchtig zugleich als ihren „Jahrestag“ bezeichnen. Es ist der Tag, an dem sie nachweisen müssen, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten mindestens 507 Stunden ihrem Beruf nachgegangen sind. Nur wenn ihnen das gelingt, gelten sie als „intermittierend Beschäftigte“ und haben Recht auf die für sie bestimmte Subvention.

Das System geht auf die 1930-er Jahre zurück, als Filmproduktionsfirmen Schwierigkeiten hatten, Personal für zeitlich begrenzte Projekte zu finden. Fachkräfte wie Tischler oder Szenenbildner arbeiteten lieber in Festanstellung. Die „Intermittence“ sollte ihnen schmackhaft machen, temporäre Jobs anzunehmen, weil sie trotzdem durchgehend finanziell abgegolten wurden – und so den Produktionsfirmen zur Verfügung stehen konnten.

Banger Blick in die Zukunft

Das Konzept gilt nach wie vor. Die Leistung aus dem Arbeitslosentopf bekommt man monatlich für all jene Tage ausbezahlt, an denen man gerade nicht auf der Bühne oder im Proberaum stand. Ihre Höhe hängt davon ab, wie viel man im Vorjahr gearbeitet und verdient hat. Je mehr Einkommen und Stunden man nachweist, desto höher das Tagesentgelt im nächsten Jahr. Tänzerin Pauline Richard kommt derzeit auf 51 Euro pro Tag, also rund 1500 Euro brutto in einem Monat ohne Job. „Das ist etwas, wovon man leben kann.“ Noch sei sie in einer „glücklichen Lage“. Bang ist ihr eher vor der Zukunft.

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Bis 31. August 2021 hat sie noch Zeit auf ihre berüchtigten 507 Stunden zu kommen.  Als die Kulturszene im Frühjahr aufschrie, weil reihenweise Festivals abgesagt und Kultureinrichtungen geschlossen wurden, reagierte die Regierung. Die bisher individuellen Jahrestage wurden pauschal auf dieses Datum verlegt. Doch Richard hat gerade einmal rund 100 Stunden zusammen – und nun steht das öffentliche Leben erneut still. Seit 30. Oktober gilt der zweite Lockdown in Frankreich.

„Tick tack“, sagt Richard und bewegt dabei ihren Zeigefinger wie einen Taktgeber nach links und rechts. Sie bereitet sich in Gedanken schon darauf vor, ihren Status zu verlieren. Das hieße im schlimmsten Fall ohne Job und ohne Geldleistung vom Staat dazustehen.

Schwieriges Pflaster Paris

Auch wer seinen Status behalten kann, sieht nicht rosigen Zeiten entgegen. Gerade einmal die Mindestanzahl an Stunden zu erreichen, wird für viele heißen, dass sie künftig mit wesentlich geringeren Mitteln auskommen werden müssen. Der Minimaltagessatz beträgt 38 Euro, also kaum 1200 Euro brutto im Monat. „Das gilt auch für Leute, die älter sind, Kinder haben, sich um mehr kümmern müssen als um sich selbst“, sagt Richard. Und es gilt überall in Frankreich, auch in Paris, in dessen Großraum rund 40 Prozent der „Intermittents du spectacle“ leben und wo wohnen notorisch überteuert ist.

Pablo Murgier überlegt, die Stadt vorübergehend zu verlassen, den Leerlauf zu nutzen, um nach Hause zu fahren. Der 32-jährige Argentinier lebt seit drei Jahren als Pianist und Komponist in Paris. Die wenigen, kleinen Konzerte, die er für diesen Herbst an Land gezogen hatte, fallen nun wegen des zweiten Lockdowns erneut aus. Und die „richtige Arbeit“, also etwa die internationalen Festivals, „verschiebt sich wieder auf unbestimmte Zeit“, beklagt er.

„Es wird nicht plötzlich alles wieder wie vorher sein“

Nicht arbeiten, nicht spielen zu können, macht ihm eher zu schaffen als die finanzielle Frage. „Super schwierig“ sei das, aber man müsse durchhalten. Er kennt es auch anders und schätzt sich deshalb glücklich als „Intermittent“ zu gelten. „Es ist sonst beängstigend. Du spielst ein Konzert und danach kommt nichts. Kein Geld. Jetzt kann ich essen, meine Miete zahlen.“ Er ist zuversichtlich, dass er den Status nächstes Jahr nicht verlieren wird. „Sie werden den Jahrestag noch weiter verschieben müssen. Die Kultur wieder zu öffnen, wird ein langer Prozess sein. Es wird nicht plötzlich alles wieder wie vorher sein.“

Dabei ist es schon in gewöhnlichen Zeiten nicht leicht, Stunden zu sammeln und den Tagessatz auf einem Niveau zu halten, von dem man leben kann. Gibt Murgier etwa ein Konzert, ist festgelegt, dass er dafür 12 Stunden ausweisen kann. Tatsächlich hat er viel mehr Zeit investiert. Komponieren, sein Instrument üben, mit seinem Ensemble proben; all das wird vom Arbeitsstunden-Radar nicht erfasst. Auch den logistischen Aufwand – sich für Projekte bewerben, sie organisieren, Papierkram erledigen – lässt das System unter den Tisch fallen.

Künstlerische Freiheit als Privileg

Umgekehrt erlaubt der Status eine Freiheit, die von Murgier wie auch von Tänzerin Pauline Richard als Privileg verstanden wird. Dass sie – zumindest derzeit noch – über ein regelmäßiges Einkommen verfügt, ermöglicht ihr etwa ihren Tanzunterricht zu finanzieren. Sie geht an sechs Tagen in der Woche für mindestens zwei Stunden zu ihrem Ballett-Lehrer, besucht zusätzlich Spezialisierungs-Workshops und nimmt Yoga-Stunden zum körperlichen Ausgleich. Durchschnittlich zahlt sie 16 Euro pro Unterrichtseinheit – vorausgesetzt die Tanzschulen sind nicht corona-bedingt geschlossen.

Zwei Milliarden Euro für Kultur

"Die Kultur ist ein Mehrwert Frankreichs", sagt Kulturministerin Roselyne Bachelot noch im Sommer. Doch die Interessensvertreter auf politischer Ebene fordern mehr Unterstützung und sind aufgebracht. Regelmäßig rufen Gewerkschaften zu Protestaktionen auf. Gefordert wird unter anderem, dass der Jahrestag auf einen Zeitpunkt verschoben wird, an dem es wieder ausreichend Arbeit gibt. Die von der Regierung versprochenen zwei Milliarden Euro für den Kultursektor werden skeptisch angenommen. Denn es ist nicht geklärt, wie genau das Geld bei den sich abstrampelnden Kulturschaffenden ankommen soll.

Befürchtet wird zudem, dass es eher jenen Häusern zu Gute kommen wird, die sowieso schon mehr Mittel zur Verfügung haben, während etwa die kleine Schauspieltruppe aus dem Pariser Vorort leer ausgehen könnte.

Auch Kultur im Lockdown

Es trägt nicht zur guten Stimmung bei, dass die Kommunikation seitens der Politik zuletzt etwas unglücklich verlief. Premierminister Jean Castex hatte Ende August noch an die Bevölkerung appelliert: „Gehen Sie ins Kino, gehen Sie ins Theater, Sie riskieren nichts!“ Entsprechend perplex und verärgert waren die Betroffenen, als kurz darauf eine abendliche Ausgangssperre verhängt wurde, die naturgemäß neben der Gastronomie vor allem die Kulturstätten traf.

Sorge besteht auch um jene, die durch das Raster fallen. Das sind etwa die Buchautoren, Malerinnen oder Skulpteure, die als Selbständige gelten und kein Anrecht auf Hilfen aus dem „Intermittence“-Topf haben. Und dann gibt es noch jene, die zwar nicht Kulturschaffende sind, aber den Sektor mit am Leben erhalten; etwa die sogenannten „Extras“ der Gastronomie, die saisonal oder tageweise beschäftigt werden. Mit den annullierten Festivals und Großveranstaltungen geht ihnen eine wichtige Einkommensquelle verloren. Mehr als zwei Millionen Menschen in verschiedenen Berufen arbeiten in Frankreich intermittierend, wenn auch nicht in der darstellenden Kunst.

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