Begegnungen auf Augenhöhe
„Da merkt man hautnah, warum Theater ein politischer Ort ist“, bringt Schauspieler Gunther Eckes den Geist der Theatertage auf den Punkt. Zweimal gibt es in dieser Spielzeit noch die Chance auf Austausch und Diskussion.
Wie es aussieht, wenn ein großes Haus wie das Burgtheater seine Türen weit öffnet? Im besten Fall: divers, lebendig, voll sprudelnder Energie und Neugierde. Wer dabei war, wird bezeugen können, dass damit das Publikumsgespräch nach der Vorstellung von „Die Ärztin“ am 21. April des vergangenen Jahres auf mehr als akkurate Weise beschrieben ist. Oder wie es Ensemblemitglied Gunther Eckes ausdrückt: „Als ‚Black Voices‘ das Pausenfoyer erobert hat, war ich sehr bewegt.“
Das Gespräch fand im Rahmen der Burgtheater-Reihe „Theatertag“ statt, die am 15. Jänner 2023 aus der Taufe gehoben wurde. Zusammen mit ausgewählten Institutionen und NGOs kam es seither insgesamt 15 Mal zu spannenden Diskussionen über gesellschaftlich relevante Themen. Der Eintritt aller „Theatertag“-Vorstellungen ist mit sechs Euro pro Karte stark vergünstigt, sodass es auch in finanzieller Hinsicht kaum eine zu überwindende Schwelle gibt.
Bewegend und anregend
„Die Verbindung zwischen sehr günstigem Kartenpreis und thematisch gebündelter Einladung von Menschen, für die ein Theaterbesuch nicht zum Alltäglichen gehört, ist eine sehr gelungene Möglichkeit, Zuschauer*innen ins Theater zu bringen, die vielleicht gar nicht auf die Idee kommen, dass dieses große, sehr repräsentativ wirkende Theater Geschichten erzählt, die auch mit ihrem Leben zu tun haben“, sagt Schauspielerin Sylvie Rohrer, die bei zwei Theatertagen („Die Troerinnen“ und „Drei Winter“) dabei war. Ihre Kollegin Zeynep Buyraç ergänzt: „Gut gelungene Theaterabende bedeuten auch immer gut besuchte Publikumsgespräche, da Rede und Austauschbedarf nach einer Vorstellung das beste Zeichen dafür sind, dass der Theaterabend nicht nur unterhält, sondern auch bewegt und anregt.“
Warum es im Rahmen dieses Austauschs für sie auch zu einer gewinnbringenden Auseinandersetzung mit eigenen Unsicherheiten kam, erläutert Burgtheater-Ensemblemitglied Sylvie Rohrer folgendermaßen: „Als wir ‚Die Troerinnen‘ im Rahmen der Theatertage spielten, mit drauffolgender Publikumsdiskussion gemeinsam mit Vertreter*innen von Ärzte ohne Grenzen, war ich besonders berührt von den Reaktionen und Berichten der Mitarbeiter*innen von Ärzte ohne Grenzen, die Einsätze in Kriegs- und Krisengebieten erlebt haben. Dass die Aufführung als sehr lebensnah empfunden wurde, und das Gespräch über ihre Erlebnisse im besten Sinn eröffnete, war für mich sehr eindrücklich. Als Schauspielerin mit Menschen in Kontakt zu kommen, die den Lebenswelten, denen wir uns auf der Bühne annähern, ganz nah sind, ist immer mit leichter Unsicherheit gepaart. Werden wir im Theater den Erlebnissen von Menschen gerecht, haben wir in der Arbeit den Nerv getroffen, dem die unterschiedlichen Organisationen von Berufs wegen permanent ausgesetzt sind?“
Aufeinanderprallende Meinungen
Zum Aufgabenbereich der eingeladenen Expert*innen gehörte es hin und wieder auch, kontrovers diskutierte Themen einzuordnen, wie Andre Wolf vom Verein MIMIKAMA betont. Als Experte für Internetmissbrauch und Fake News im Netz war er Teil des Publikumsgesprächs nach der Vorstellung von Jonathan Spectors Stück „Die Nebenwirkungen“, in dem es um einen Elternabend geht, bei dem angesichts einer Mumps-Epidemie an einer Privatschule über das Thema Impfen diskutiert und gestritten wird. Auch im Publikum trafen konträre Meinungen aufeinander. „Besonders prägnant war die aktive Teilnahme von Impfgegner*innen, die sich überproportional häufig zu Wort meldeten und teilweise eine aggressive Haltung einnahmen“, so Wolf. Er setzt nach: „Trotz dieser Herausforderungen empfand ich das Gespräch überwiegend als positiv, da die Mehrheit der Anwesenden das Thema ruhig und sachlich erörtern wollte. Es waren ja doch viele Fragen da, vor allem in Bezug auf die interessante Konstellation, dass dieses Stück bereits vor der Corona-Pandemie geschrieben wurde, dennoch die Polarisierung in dieser Zeit gut abbildet. Nahezu prophetisch abbildet.“
Burgtheater-Ensemblemitglied Zeynep Buyraç beschreibt die Stimmung während des Publikumsgesprächs auf ähnliche Weise: „Gerade bei Stücken wie ‚Die Ärztin‘ oder ‚Die Nebenwirkungen‘, die aktuelle und kontroverse Themen behandeln, waren beide Gespräche sehr spannend, weil die im Stück getroffenen Entscheidungen nicht von allen Zuschauer*innen für richtig gehalten werden. Bei ‚Die Nebenwirkungen‘ wurde zum Beispiel sehr viel über das Ende des Stücks diskutiert, es waren auch Zuschauer*innen dabei, die empört darüber waren, da sie in dem Stück nur das Impfthema wahrgenommen haben. Bei ‚Die Ärztin‘ war es die Identitätsfrage – wer welche Rolle spielen darf/soll oder nicht. Das sind Momente, die mich immer wieder zum Nachdenken bringen, weil die Interpretation eines Theaterabends immer auch von der Perspektive oder auch Lebens und Weltanschauung der Zuschauer*innen abhängig ist. Und das ist natürlich ganz wichtig und gut so!“
Komplexe Themen emotional erfahrbar machen
Die besondere Qualität des Theaters, gesellschaftlich relevante Themen zu verhandeln, liege in seiner Fähigkeit, komplexe Sachverhalte auf eine zugängliche und emotional packende Weise dazustellen, ist Nora Ramirez Castillo, Psychologin und Psychotherapeutin beim Verein Hemayat überzeugt. „Das Theater wird somit zu einem Ort, an dem sich persönliche und kollektive Geschichten verweben und das Publikum dazu eingeladen wird, über die Mechanismen der Geschichte, des Gedächtnisses und der gesellschaftlichen Verantwortung nachzudenken.“
Das Stück „Drei Winter“ von Tena Štivičić illustriere diese Fähigkeit auf besonders eindrucksvolle Weise, „indem es familiäre und gesellschaftliche Traumata über Generationen hinweg thematisiert“, fügt Ramirez Castillo, die die Diskussion zu ebenjenem Theaterabend moderierte, hinzu. „Durch die Darstellung aus verschiedenen Perspektiven eröffnet das Theater einen Raum, in dem Zuschauer*innen die Kontinuität und die Veränderungen von gesellschaftlichen Prägungen und individuellen Reaktionen darauf nachvollziehen können. Es zeigt auf, wie sich geschichtliche Ereignisse nicht nur in den öffentlichen Diskursen, sondern auch im intimen Rahmen der Familie widerspiegeln und weitergetragen werden.“