Der Mensch braucht Kunst, Literatur, Theater, Musik. – Ist das so? Wer ist der Mensch, von dem hier gesprochen wird? Wer ist der Mensch, der das behauptet? Ja, ich könnte ohne Musik zwar leben, aber ich würde es als ein freudloses Leben empfinden. Ich kenne allerdings jemanden, dem geht es nicht so. Der hört nie Musik, und wenn, dann sagt sie ihm nichts. Der besucht nie ein Theater, er liest auch keine Romane, und bei Gedichten bleibt er verständnislos. Dieser Mann ist kein Ungeheuer, er ist ein aufmerksamer, sehr kluger Mitmensch, er ist lustig und warmherzig und so weiter.

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In den Zeiten der Seuche hört man den Ruf der Kulturschaffenden: Der Mensch braucht Kultur! Ich denke: Wer so argumentiert, der hat bereits aufgegeben. Kultur brauchen wir nicht, Kultur wollen wir.

Shakespeare lässt König Lear sagen: 

O streite nicht, was nötig sei! 
Der schlechteste Bettler
hat bei der größten Not noch Überfluss.
Gib der Natur nur das, was nötig ist,
so gilt des Menschen Leben
wie das des Tiers!

Was wir über das Brauchen hinaus wollen

Nicht was wir brauchen begründet unsere Würde, sondern was wir über das Brauchen hinaus wollen. Das ist die Botschaft dieser einfachen vier Zeilen aus dem schönsten aller Dramen. Kultur ist immer Überfluss. 

Und diejenigen, in der Politik oder in der Wirtschaft oder in der Verwaltung, die wir mit dem Ruf, Kultur sei Lebensmittel, also notwendig, zu überzeugen suchen, die werden wir nicht überzeugen, wenn sie selbst Kultur nicht wollen.

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Es ist von einem betriebswirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet verrückt, ein Sonett zu schreiben."

Michael Köhlmeier

Erinnern wir uns an jenen smarten Finanzminister, der staunend, wie nur er staunend schauen konnte, in die Kamera fragte, warum überhaupt jemand auf die Idee komme, Orientalistik zu studieren, dieses „Orchideenfach“. Er meinte: Wozu kann das jemand brauchen? An BWL oder Jus hätte er diese Frage nie gerichtet. Wozu soll einer Sonette schreiben, um Himmels willen? Kann er sich damit, wenn er fleißig ist, irgendwann einen Aston Martin kaufen? Ist es nicht ein bisschen merkwürdig, zwei Monate oder länger ein Theaterstück zu probieren, das dann vielleicht nur zehnmal aufgeführt wird oder weniger?

Die Freude an der Schönheit

Ja, es ist merkwürdig. Es ist von einem betriebswirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet verrückt, ein Sonett zu schreiben und womöglich noch zu unterscheiden, ob es ein Petrarca-Sonett, ein Gryphius-­Sonett oder ein Shakespeare-Sonett werden soll. Die Lebensfreude, die aus solchen Beschäftigungen entsteht – die Freude an der Schönheit –, ist allerdings nicht systemrelevant. So wie Glück als solches nicht ­systemrelevant ist. Es ist nicht systemrelevant, die Augen zu schließen und zu tanzen. Der Kuss ist nicht systemrelevant.

Onkel Dagobert wird am Ende seines Lebens bedauern, zu wenig Aktien gekauft und zu selten in seinem Geldspeicher gebadet zu haben. Ich werde bedauern, zu selten und zu wenig geküsst zu haben. Ich bin sterblich, Onkel Dagobert nicht. Mit Bedauern werde ich vielleicht an ein Gedicht von William Carlos Williams denken und werde denken, ich hätte mich mehr um das Wesentliche kümmern sollen. Was ist das Wesentliche?

Ich habe
die Pflaumen
im Eisschrank
gegessen

die du sicher
aufheben
wolltest
fürs Frühstück

Vergib mir
sie waren köstlich
so süß
und so kalt

Nur Gold im Kopf

In einem Werbespot, der zurzeit im Fernsehen läuft, erhebt sich ein weiß gekleideter Mann am Morgen von seinem weißen Bett, das in einem weißen Raum steht, ein goldener Roboter mit starrem Frauengesicht begrüßt ihn und sagt, heute sei sein 150. Geburtstag, sein Vermögen betrage etliche Trillionen, und fragt, wie er das alles geschafft habe. Der Mann klopft der Puppe mit dem Knöchel gegen den Schädel und antwortet: „Ich habe wie du immer nur Gold im Kopf gehabt.“ 

Der kurze Spot ist ein finsteres Meister­werk: Er zeigt die absolute Sinnlosigkeit des Seins. Weniger als dieses Nichts gibt es nicht. Vor Entsetzen vergisst der Zuseher, wofür hier eigentlich geworben wird. Am Ende springt ein weiß gekleidetes Kind daher und ruft: „Papa!“ – Ich hätte mir so sehr gewünscht, das Kind würde sagen: „Papa, lass mich nach draußen in den Dreck, gib mir einen Stumpen Bleistift und einen Zettel Papier, ich möchte auf keinen Fall werden wie du, ich möchte nicht älter werden als achtzig Jahre, und jetzt will ich ein Gedicht über die rote Farbe schreiben, die von einem Schubkarren abbröckelt, der im Regen bei den weißen Hühnern steht, ein Sonett vielleicht oder auch nicht, ich weiß nicht, was mir einfällt, ein paar schöne Sätze, in denen das Wort Gold nur als Metapher vorkommt …

Das Ziel aller Zivilisation ist die Schönheit

Wäre es nicht schön, in unserer Verfassung stünde: Der Mensch soll wollen sollen, was er nicht braucht, denn darin liegt seine Würde. Oder noch deutlicher: Das Ziel aller Zivilisation ist die Schönheit.

Und nun! Ich sehe sie aufmarschieren: die Realisten, die mitleidig grinsenden, die meinen, sie seien realistisch, nur weil sie zynisch sind. Sie waren es, die uns in jener fernen Zeit, als wir noch keine Seuche ­hatten, weismachen wollten, ein Krankenhaus müsse gewinnorientiert geführt werden, die bei allem, was nur schön war und sonst nichts, sagten, das könne man sich heut­zutage nicht mehr leisten – es sei nicht systemrelevant. 

Der Überfluss und das Überflüssige

Schubert zum Beispiel war nicht systemrelevant. Als er starb, gab es einen Sonntagsanzug zu vererben und sonst ein paar Kleinigkeiten. Als er Goethes „Erlkönig“ in Töne setzte, hätte er bestimmt gern besser gelebt, als er lebte, aber betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte spielten keine Rolle, wie er die Noten aufs Papier setzte. Und nicht anders war es, als Goethe das Gedicht niederschrieb, das mir auch beim zehnten Mal Lesen die Tränen in die Augen treibt.

Jeder Künstler liebt es, wenn er einen Auftrag erhält. Er wird gewollt. Das tut der Seele gut und tut dem Konto gut. Sein Werk wird gewollt. Aber eines ist gewiss: Gebraucht wird es nicht. Wir brauchen den Shakespeare nicht, den Mozart nicht, den Beethoven nicht, den Goethe nicht, den van Gogh nicht, den Fellini nicht, den Bob Dylan nicht, den Michael Haneke nicht. Aber wir wollen sie. Und noch Hunderte, Tausende von dieser Sorte mehr. Weil wir den Überfluss wollen. Das Überflüssige.

Michael Köhlmeier

Schriftsteller, 70 Jahre 
Letzte Veröffentlichungen: „Bruder und Schwester Lenobel“, Roman, Hanser Verlag, „Die Märchen“, Hanser Verlag

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