Sorgen machten sich breit, als ich ihn hinter der Bühne so sitzen sah, den Otto Schenk. Nur mehr eine halbe Stunde bis zum Auftritt. Sein Gesicht war von Erschöpfung überzogen. Ein Sanitäter maß eilig den Blutdruck. Michael Niavarani zeigte sich unbeeindruckt angesichts des Zustands seines Sparringspartners. Seine Gelassenheit erklärte sich Sekunden nach dem Auftritt der beiden im Globe: Wie einem Zaubertrank-Kessel entstiegen, schleuderte da plötzlich ein um Jahrzehnte verjüngter Schenk in unaufgeregter Trockenheit seine Pointen über die Rampe.

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Und das Publikum tobte damals. Genauso wie zurzeit im Josefstädter „Kirschgarten“, wo Schenk als Diener-Greis Firs genussvoll Gebrechlichkeit simuliert und die Zuwendung des Publikums mühelos absorbiert. Schenk trägt es in sich wie kein Zweiter, jenes Bühnen-Gen, das Schauspieler in die Liga der Vornamenlosen katapultiert.

Verehrungs-Unterzuckerung und Häme

Nur mit diesem Gen kann man es im theaterverrückten Wien nämlich zu einem Haushaltsbegriff wie der Schenk, die Happel, der Hochmair oder die Minichmayr bringen. Und in der Folge zum Publikumsliebling erblühen. Ein Etikett, das von jenen Kollegen, die unter Verehrungs-Unterzuckerung leiden, aus Selbstschutz und Neid natürlich mit einer gewissen Häme zum Einsatz gebracht wird.

„Klar“, erklärt der deutsche ­Entertainer und laut Eigendefinition „gescheiterte Schauspieler“ Harald Schmidt. "Unter den Publikumslieblingen, den Zentralsäulen des Burgtheaters, leiden die Knallchargen mit ihren Ansprüchen auf vielschichtige Charaktere immer.“ Michael Niavarani hingegen schämte sich nie, Publikumsliebling werden zu wollen. „Mich hat immer der Maxi Böhm fasziniert, der kam auf die Bühne, und ohne dass er nur einen Finger krümmte, waren alle begeistert.“

Biotop für Publikumslieblinge

Warum gerade Wien für Publikumslieblinge ein solch fruchtbares Biotop ist, lässt sich vielleicht mit der katholisch-barocken Faszination für Pomp und Verstellung erklären. Ein „Piefke“ zu sein erschwere natürlich den steilen Weg in den Publikumslieblings-Olymp. Das berichten unsere ­Beute-Deutschen Maria Happel und Michael Maertens. „Bedingungs­lose Liebe bekommst du hier nicht“, erzählt Maertens, „das kann auch ganz schnell wieder kippen.“

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Voll der Verachtung lässt Thomas Bernhard sein Ohrensessel-Alter-Ego, das bei einem „künstlerischen Abendessen“ auf einen Stargast warten muss, in „Holz­fällen“ ätzen: „… ein Schauspieler also, ein sogenannter Wiener Publikumsliebling und Burgtheatergeck, der in Grinzing oder Hietzing eine Villa hat …“ Unter den Hasstiraden tarnt Bernhard wie oft seine Liebe. Bernhard habe in Wahrheit Schauspieler bewundert wie kaum ein anderer, erzählt Karin Bergmann.

Hingebungsvolle Zärtlichkeit

Paradoxerweise empfinden auch jene Menschen, die kaum oder gar nicht ins Theater gehen, hingebungsvolle Zärtlichkeit für die Publikumslieblinge. Sie sind, wie sonst nur siegreiche Sportler, eine Art nationales Eigentum. Jeder Strizzi, jede Wursttheken-Kraft, jedes alphabetisierte Kind kennt sie. Auch dank der volksbildnerischen ORF-„Seitenblicke“. Denn sie vermitteln selbst den kunstfernen Teilen der Republik die Illusion, bei jeder Premiere hautnah dabei zu sein. Wie es sich anfühlt, aus dem Wiener Liebeskreis zu treten, erzählte der nach Berlin übersiedelte Joachim Meyerhoff: „Hätte schlimmer kommen können“ fiele dort durchaus in die Kategorie Wohlwollen. „Aber wenn der Berliner sagt:  ‚Kann man nicht meckern‘, dann geht er wirklich durch die Decke.“

Zur Person: Angelika Hager

Alter: 57 Jahre
Wohnort: Wien
Sie leitet das Gesell­schafts­ressort beim Nachrichtenmagazin „profil“. Und sie ist die Frau ­hinter dem Kolumnen-­Pseudo­nym Polly Adler im „Kurier“. Hager gestaltet ­gestaltet das Theaterfestival Schwimmender Salon im Thermalbad Bad Vöslau. 

Weiterlesen: Angelika Hager über Claus Peymann, der „letzte Tyrannus Rex der Theaterregie“

Theatertipp: Otto Schenk im Theater in der Josefstadt: "Der Kirschgarten"