Als „ein Stück über das Rudelgesetz und die Ausgestoßenen“ bezeichnete die 1901 in Ingolstadt geborene Autorin Marieluise Fleißer ihren Text „Fegefeuer in Ingolstadt“. Solchen Rudelgesetzen folgt – wenn man bei Fleißers Ausdrucksweise bleiben möchte – auch der Dramenkanon. Wer Teil des Rudels ist, muss hier nicht extra angeführt werden – die Namen lassen sich gut von den Spielplänen der großen Theaterhäuser ablesen. Zu den „Ausgestoßenen“ gehören unter anderem Autorinnen wie Maria Lazar und Anna Gmeyner. Das Burgtheater hat es sich zur Aufgabe gemacht, aus dem Kanon ausgeschlossene Texte zurück auf die Bühne zu holen.

Anzeige
Anzeige
Anna Gmeyner
Anna Gmeyner. 1902 in Wien geboren, arbeitete Anna Gmeyner unter anderem für Erwin Piscator. Mit ihrem 1933 uraufgeführten Stück „Automatenbüfett“ machte sie als Dramatikerin von sich reden.

Foto: Almay Stock Photo

Wie es dazu kam, fragen wir den Dramaturgen Alexander Kerlin. „Ein Spielplan setzt sich immer aus der Neuinterpretation von Texten des klassischen Kanons und unbekannteren Titeln zusammen. Das können neue Texte sein, aber es gibt auch viele gute ältere Stücke, die aus verschiedenen Gründen unbemerkt geblieben sind. Das sind historisch oft von Frauen verfasste Stücke, die im männlich dominierten Kulturbetrieb übersehen wurden oder die – wie im Fall von Lazar und Gmeyner – von der nationalsozialistischen Zensur ausradiert wurden. In unseren Recherchen für Wien ist uns das besonders aufgefallen, weil gerade in den 1920ern viele interessante Stoffe von Frauen entstanden sind, die nie wirklich dieselbe Chance hatten wie die ihrer männlichen oder nichtjüdischen Kollegen.“

Ein lebendiger Organismus

Das erste Stück, das in diesem Zusammenhang seinen Weg auf den Spielplan des Burgtheaters fand, war Maria Lazars 1921 uraufgeführter Einakter „Der Henker“. „Mit dieser Inszenierung war unsere Faszination geweckt und der politische Wille bestätigt, dass das eine interessante Fährte ist“, fasst Alexander Kerlin zusammen. Der Dramaturg ist davon überzeugt, dass man sich als Theaterbetrieb laufend die Frage stellen muss, wie man von den nicht nur sprichwörtlich in Stein gemeißelten Autoren zu einem Kanon kommt, der als lebendiger Organismus funktioniert.

Marieluise Fleißer
Marieluise Fleißer. 1901 in Ingolstadt geboren, stand Marieluise Fleißer stets im Schatten ihres Kollegen Bertolt Brecht, der auch ihr dramatisches Schreiben beeinflusste. Ihr erstes Stück war „Fegefeuer in Ingolstadt“.

Foto: picturedesk.com

Anzeige
Anzeige

„Der Dramenkanon ist von einer selbstreproduzierenden Logik geprägt“, vertieft er das Thema. Wie er das genau meint? „Die berühmten Stoffe der Weltliteratur sind nicht wegzudenken von den Spielplänen, aber sie sind bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich von Männern verfasst und haben auch meistens deutlich mehr männliches Personal. Das führt in den Theatern überall und fast ausnahmslos zu einer bestimmten Besetzungslogik. Als ich vor 15 Jahren im Stadttheater in Dortmund begonnen habe, hat man mir noch ernsthaft erklären wollen, dass man dann ein ausgewogenes Ensemble hat, wenn man ‚Don Karlos‘ gut durchbesetzen kann. Das darf aber heute nicht mehr die Rechnung sein.“ Für alle zahlenaffinen Leser*innen: Es kommen vierzehn männliche und sechs weibliche Figuren in dem Stück vor.

Einer der Schlüssel zu einer gendergerechteren und diversen Theaterinstitution ist es also, den Kanon zu erweitern, ist der Dramaturg überzeugt. „Mehr zeitgenössische Autor*innen auf die Bühne zu bringen kann ein Weg sein. Darüber hinaus lohnt es sich aber eben auch, in die Vergangenheit zu blicken.“

Marianne Fritz
Marianne Fritz. Die in der Steiermark geborene Marianne Fritz arbeitete nach ihrer Ausbildung zur Bürokraft als freie Autorin in Wien. Für „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ von 1978 erhielt sie den Robert-Walser-Preis.

Foto: As Syndication/Ullstein Bild

Vergessen ist nicht gleich vergessen

Nach Maria Lazars „Der Henker“ wurde Anna Gmeyners Stück „Automatenbüffet“ im Burgtheater gezeigt. „Man muss allerdings ein bisschen aufpassen, das Label ‚vergessene Autorin‘ nicht automatisch über alle drüberzustülpen. Auf Marieluise Fleißer trifft das Attribut gar nicht zu, und auch Anna Gmeyner wurde immer mal wieder gespielt, wenn auch sehr selten“, wirft Alexander Kerlin ein. Ivo van Hoves Inszenierung von „Ingolstadt“ bei den Salzburger Festspielen zu zeigen sei trotzdem eine wichtige Geste gewesen, ergänzt er.

Automatenbüffet
„Automatenbüfett“: Barbara Freys Inszenierung von Anna Gmeyners Stück eroberte von Wien aus das Ber­liner Theatertreffen.

Foto: Matthias Horn

Etwas anders verhält es sich mit Maria Lazar. „Bei ihr hat die faschistische Zensur ganze Arbeit geleistet“, so Kerlin. „Als ein prominentes Theater mit der idealen Spielstätte für solche Projekte – dem Akademietheater – haben wir die Möglichkeit, ausgeschlossene Stimmen wieder hörbar zu machen: sie durch die Jahrhunderte wieder zu uns sprechen zu lassen. Maria Lazar hat auf unglaublich hellsichtige und lustige Art geschrieben, und sie heute aufzuführen bedeutet auch, in Richtung der Faschisten zu sagen: Ihr habt es nicht geschafft, ihr habt nicht gewonnen. Sie spricht.“

Der Henker
„Der Henker“: Itay Tiran und Sarah Viktoria Frick in Maria Lazars Ein­ akter „Der Henker“ im Akademie­ theater.

Foto: Matthias Horn

Nach „Der Henker“ zeigt das Burgtheater nun eine Bühnenfassung ihres Romans „Die Eingeborenen von Maria Blut“. Regie führt Lucia Bihler. „Als ich den Text gelesen habe, konnte ich von meinem Büro aus die Querdenker am Haus vorbeiziehen sehen. Diese Verbindung von Wissenschaftsfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus spielt auch in Maria Lazars Roman eine elementare Rolle. Außerdem kommen komplexe und interessante Frauenfiguren darin vor“, erzählt Alexander Kerlin. Wie in all den hier erwähnten Texten.

Ingolstadt
„Ingolstadt“: Ivo van Hoves Inszenierung der beiden Ingolstädter Stücke wurde bei den Salzburger Festspielen 2021 uraufgeführt und ist im Burgtheater zu sehen.

Foto: Matthias Horn

Ein Beispiel: Berta aus „Die Schwerkraft der Verhältnisse“, die passend zur Kanondebatte sagt: „Übereinkünften unterordne ich mich dann, wenn sie mich aus irgendwelchen ‚Gründen‘ überzeugen. Aber nicht, weil die Übereinkünfte ‚nun einmal‘ gegeben sind.“

Die Schwerkraft der Verhältnisse
„Die Schwerkraft der Verhältnisse“: Bastian Kraft brachte den Roman von Marianne Fritz zum ersten Mal auf eine Theaterbühne.

Foto: Marcella Ruiz-Cruz

Zu den Spielterminen von „Die Eingeborenen von Maria Blut“ im Akademietheater!