Vom Rudelgesetz und den Ausgestoßenen
Mit Maria Lazar, Anna Gmeyner, Marieluise Fleißer und Marianne Fritz bringt das Burgtheater Autorinnen auf den Spielplan, deren literarische Arbeiten in den vergangenen Jahrzehnten nur sehr selten oder gar nicht im Theater zu sehen waren.
Als „ein Stück über das Rudelgesetz und die Ausgestoßenen“ bezeichnete die 1901 in Ingolstadt geborene Autorin Marieluise Fleißer ihren Text „Fegefeuer in Ingolstadt“. Solchen Rudelgesetzen folgt – wenn man bei Fleißers Ausdrucksweise bleiben möchte – auch der Dramenkanon. Wer Teil des Rudels ist, muss hier nicht extra angeführt werden – die Namen lassen sich gut von den Spielplänen der großen Theaterhäuser ablesen. Zu den „Ausgestoßenen“ gehören unter anderem Autorinnen wie Maria Lazar und Anna Gmeyner. Das Burgtheater hat es sich zur Aufgabe gemacht, aus dem Kanon ausgeschlossene Texte zurück auf die Bühne zu holen.
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Wie es dazu kam, fragen wir den Dramaturgen Alexander Kerlin. „Ein Spielplan setzt sich immer aus der Neuinterpretation von Texten des klassischen Kanons und unbekannteren Titeln zusammen. Das können neue Texte sein, aber es gibt auch viele gute ältere Stücke, die aus verschiedenen Gründen unbemerkt geblieben sind. Das sind historisch oft von Frauen verfasste Stücke, die im männlich dominierten Kulturbetrieb übersehen wurden oder die – wie im Fall von Lazar und Gmeyner – von der nationalsozialistischen Zensur ausradiert wurden. In unseren Recherchen für Wien ist uns das besonders aufgefallen, weil gerade in den 1920ern viele interessante Stoffe von Frauen entstanden sind, die nie wirklich dieselbe Chance hatten wie die ihrer männlichen oder nichtjüdischen Kollegen.“
Ein lebendiger Organismus
Das erste Stück, das in diesem Zusammenhang seinen Weg auf den Spielplan des Burgtheaters fand, war Maria Lazars 1921 uraufgeführter Einakter „Der Henker“. „Mit dieser Inszenierung war unsere Faszination geweckt und der politische Wille bestätigt, dass das eine interessante Fährte ist“, fasst Alexander Kerlin zusammen. Der Dramaturg ist davon überzeugt, dass man sich als Theaterbetrieb laufend die Frage stellen muss, wie man von den nicht nur sprichwörtlich in Stein gemeißelten Autoren zu einem Kanon kommt, der als lebendiger Organismus funktioniert.
„Der Dramenkanon ist von einer selbstreproduzierenden Logik geprägt“, vertieft er das Thema. Wie er das genau meint? „Die berühmten Stoffe der Weltliteratur sind nicht wegzudenken von den Spielplänen, aber sie sind bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich von Männern verfasst und haben auch meistens deutlich mehr männliches Personal. Das führt in den Theatern überall und fast ausnahmslos zu einer bestimmten Besetzungslogik. Als ich vor 15 Jahren im Stadttheater in Dortmund begonnen habe, hat man mir noch ernsthaft erklären wollen, dass man dann ein ausgewogenes Ensemble hat, wenn man ‚Don Karlos‘ gut durchbesetzen kann. Das darf aber heute nicht mehr die Rechnung sein.“ Für alle zahlenaffinen Leser*innen: Es kommen vierzehn männliche und sechs weibliche Figuren in dem Stück vor.
Einer der Schlüssel zu einer gendergerechteren und diversen Theaterinstitution ist es also, den Kanon zu erweitern, ist der Dramaturg überzeugt. „Mehr zeitgenössische Autor*innen auf die Bühne zu bringen kann ein Weg sein. Darüber hinaus lohnt es sich aber eben auch, in die Vergangenheit zu blicken.“
Vergessen ist nicht gleich vergessen
Nach Maria Lazars „Der Henker“ wurde Anna Gmeyners Stück „Automatenbüffet“ im Burgtheater gezeigt. „Man muss allerdings ein bisschen aufpassen, das Label ‚vergessene Autorin‘ nicht automatisch über alle drüberzustülpen. Auf Marieluise Fleißer trifft das Attribut gar nicht zu, und auch Anna Gmeyner wurde immer mal wieder gespielt, wenn auch sehr selten“, wirft Alexander Kerlin ein. Ivo van Hoves Inszenierung von „Ingolstadt“ bei den Salzburger Festspielen zu zeigen sei trotzdem eine wichtige Geste gewesen, ergänzt er.
Etwas anders verhält es sich mit Maria Lazar. „Bei ihr hat die faschistische Zensur ganze Arbeit geleistet“, so Kerlin. „Als ein prominentes Theater mit der idealen Spielstätte für solche Projekte – dem Akademietheater – haben wir die Möglichkeit, ausgeschlossene Stimmen wieder hörbar zu machen: sie durch die Jahrhunderte wieder zu uns sprechen zu lassen. Maria Lazar hat auf unglaublich hellsichtige und lustige Art geschrieben, und sie heute aufzuführen bedeutet auch, in Richtung der Faschisten zu sagen: Ihr habt es nicht geschafft, ihr habt nicht gewonnen. Sie spricht.“
Nach „Der Henker“ zeigt das Burgtheater nun eine Bühnenfassung ihres Romans „Die Eingeborenen von Maria Blut“. Regie führt Lucia Bihler. „Als ich den Text gelesen habe, konnte ich von meinem Büro aus die Querdenker am Haus vorbeiziehen sehen. Diese Verbindung von Wissenschaftsfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus spielt auch in Maria Lazars Roman eine elementare Rolle. Außerdem kommen komplexe und interessante Frauenfiguren darin vor“, erzählt Alexander Kerlin. Wie in all den hier erwähnten Texten.
Ein Beispiel: Berta aus „Die Schwerkraft der Verhältnisse“, die passend zur Kanondebatte sagt: „Übereinkünften unterordne ich mich dann, wenn sie mich aus irgendwelchen ‚Gründen‘ überzeugen. Aber nicht, weil die Übereinkünfte ‚nun einmal‘ gegeben sind.“