Es gibt ein Paradoxon, das besagt, dass die Geschwindigkeit, mit der Sätze den Mund eines Menschen verlassen, nichts darüber aussagt, wie schnell ebenjener Mensch echte Herzensprojekte in die Welt hinauskatapultiert. Nennen wir es: das Nils-Strunk-Paradoxon. Rund fünf Jahre hat der Schauspieler, Regisseur und Musiker mit seiner freien Gruppe, dem Neuen Künstlertheater Berlin, an seinem Stefan-Zweig-Projekt „Saudade Zweig“ gearbeitet. Nun sitzt er im Café Zartl, um in fünffacher Geschwindigkeit darüber zu sprechen. Letzteres ist natürlich übertrieben, klingt aber einfach gut.

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Fix ist: Ein langer Atem beziehungsweise eine geschickte Atemtechnik ist in beiden Fällen von Vorteil. Den hatte Strunk auch schon bei seiner Version der „Zauberflöte“, die im April 2023 im Kasino Premiere feierte, kurz danach ins Burgtheater übersiedelte und seither immer so gut wie ausverkauft ist. Die Arbeit von zwei Jahrzehnten hätte sich in dieser Inszenierung eingelöst, sagte Nils Strunk einmal in einem Interview mit der BÜHNE.

Was ganz und gar nicht paradox ist: Die Intensität, mit der sich der 1990 geborene Schauspieler und Theatermacher in seine Projekte stürzt, ist in jedem Satz, den er darüber sagt, spürbar. In einem Interview mit dem Magazin „c/o Vienna“ meinte er einmal, der Satz „Er kann nichts für sich behalten“ würde ihn eigentlich ganz gut beschreiben – mit all den positiven und den negativen Seiten. Strunk: „Aber ich will es ja auch gar nicht anders, ich möchte ja alles geben.“

Saudade Zweig
Mathias Tönges lefeld (Schauspiel).

Foto: Nico Rademacher

„Die Welt von gestern“

Auch dass er für den Liedtheaterabend über Stefan Zweig jenes Haus im brasilianischen Petrópolis besucht hat, in dem sich der Schriftsteller 1942 gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lotte Zweig (gespielt von Elisabeth Kanettis) umgebracht hat und eine Postkarte aus seinem Nachlass besitzt, sagt etwas darüber aus, welche Art von Theater ihn interessiert – nämlich jene, die lebendig, sinnlich, klug und unterhaltsam zugleich ist. Es sind Theaterabende, die nahe an einen heranrücken, einem vielleicht sogar nahegehen, allerdings ohne jene tränendrüsige Konnotation, die bei Letzterem oft mitschwingt.

Bevor wir tiefer in das Projekt eintauchen, ein paar grundlegende Informationen zum Stück: „Wir erzählen wie Lotte und Stefan Zweig seine Autobiografie, ‚Die Welt von gestern‘, schreiben und redigieren. Dabei springen sie immer wieder in die Vergangenheit zurück und treffen dabei auf Leute wie Sigmund und Anna Freud, Auguste Rodin oder Joseph Roth (gespielt von Bardo Böhlefeld). Es ist ein Abend, der mehrere Ebenen hat und der in etwa zu 50 Prozent aus Sprechtheaterszenen besteht. Die andere Hälfte sind Lieder – gespielt und gesungen von den drei Musiker*innen Manuela Viera, Mathias Tönges und Schaghajegh Nosrati.“

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Manuela käme aus Petrópolis, sie sei sogar in jener Straße großgeworden, in der Stefan und Lotte Zweig vor ihrem Selbstmord wohnten, fügt Nils Strunk hinzu. Er selbst sei in etwa vor sechs oder sieben Jahren auf den Autor gestoßen. „Was die Auflage angeht, war er unter anderem erfolgreicher als Thomas Mann, der ihn jedoch nie ernstgenommen hat. Auch Robert Musil hat sich über Zweig lustig gemacht. Natürlich ist seine Sprache teilweise verschnörkelt, gleichzeitig ist ein Buch wie ‚Die Welt von gestern‘ hochaktuell. Ich hatte es mich gerade sehr intensiv mit seinem Werk beschäftigt, als sich der Erste Weltkrieg zum 100. Mal jährte, sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zuspitzte und Putin zurecht aus G8 rausgeschmissen wurde. Da habe ich mir schon die Frage gestellt, ob sich die Geschichte gerade wiederholt.“

Saudade Zweig
Manuela Viera

Foto: Nico Rademacher

Unwiederbringlich

Der autobiografische Text „Die Welt von gestern“, der eine wichtige Säule des Abends ist, vermittle jedoch nicht nur das Gefühl eines zerbröckelnden Europas, sondern auch eine Form von Sehnsucht nach einer Welt, die es nicht mehr gibt, so Strunk. „Die es vielleicht nie gab“, ergänzt er. „Diese Nostalgie, die man empfindet, gleichzeitig aber gar nicht weiß, ob man sich nach etwas sehnt, das überhaupt jemals existierte, ist ein Gefühl, das auch heute sehr verbreitet ist.“

Es ist ein bisschen, wie wenn man ein kleines Boot ins Meer schiebt, in dem schon Leute sitzen und man selbst springt als Letzter auf.

Nils Strunk über den Spagat zwischen Regie und Schauspiel

Ein bisschen ist es auch genau das, was das portugiesische Wort „Saudade“, für das es keine exakte deutsche Entsprechung gibt, bedeuten könnte. „Manuela sagt oft, dass es beschreibt, dass etwas fehlt. Das finde ich für das Verständnis von Stefan Zweig total wichtig. All diese Millionen Menschen, die von den Nationalsozialisten umgebracht wurden, fehlen immer noch. Mit ihren Kindern hätten wir zur Schule gehen sollen. Und in diesem Kaffeehaus müssten jetzt gerade zehn Juden und Jüdinnen mehr sitzen.“ Zweig selbst hätte im Laufe seines Lebens so viele Neuanfänge erlebt, dass er einen weiteren einfach nicht mehr gepackt hätte, so Strunk.

Nils Strunk selbst spielt bei dem Stück, das am 17. und 18. zum ersten Mal in Wien (Ehrbar Saal) gezeigt wird, Stefan Zweig und hat Regie geführt. Wie sich dieser Spagat angefühlt hat, wollen wir noch von ihm wissen. „Es ist ein bisschen, wie wenn man ein kleines Boot ins Meer schiebt, in dem schon Leute sitzen und man selbst springt als Letzter auf. Dabei macht man sich die Füße nass und das Boot auch ein bisschen. Es geht nicht spurlos. Aber die trocknen auch wieder. Außerdem ist es ein total gemeinschaftliches Projekt, mehr noch als bei der ‚Zauberflöte‘.“ Wichtig war ihm darüber hinaus auch, dass die Musiker*innen auch Text sprechen und die einzelnen Bereiche nicht so strikt getrennt sind, wie das bei Liederabenden üblicherweise der Fall ist.

Saudade Zweig
Schaghajeh Nosrati

Foto: Nico Rademacher

Theater als Breitensport

Geht es um Stefan Zweig, kommt man zudem um die Beschäftigung mit jener Stadt, in der er geboren wurde, nicht herum. Und das möchte Nils Strunk auch gar nicht, wie er im Interview erzählt. „Über Wien habe ich durch diese Arbeit gelernt, dass die Stadt zu jenen, wenigen Orten auf der Welt gehört, wo Menschen es geschafft haben, Fundamente zu gießen, die jenen, die nachfolgen, über Generationen hinweg guttun. Das geht von der Kaffeehauskultur bis zur Oper, den Fassaden und dem sozialen Wohnbau. Was natürlich nicht bedeutet, dass das Alte automatisch immer gut ist.“

Mehr als nur gut findet er jedenfalls, dass in Wien Theater und Kultur im Allgemeinen immer noch Breitensport ist. „Die Trainer*innen im Box-Gym nebenan gehen auch gerne ins Burgtheater“, hält er daran anknüpfend fest. „Außerdem habe ich mitbekommen, dass ‚is mir wurscht‘ eine Haltung ist und keinesfalls Gleichgültigkeit bedeutet“, fügt er lachend hinzu. Das passt gut, denn wenn Nils Strunk eine Sache garantiert nicht ist, dann gleichgültig seinem Beruf gegenüber.

Saudade Zweig
Bardo Böhlefeld und Nils Strunk.

Foto: Nico Rademacher

Zu den Spielterminen von „Saudade Zweig“ im Ehrbar Saal!