„Jedes revolutionäre Weltgefühl wird bequem, wenn es in die Jahre kommt“ heißt es bei Herbert Ihering in „Der Kampf ums Theater“ (1922). Die Parolen sind schnell abgegriffen. Aber das ist gar nicht notwendig, denn im Fundus schlummert unentdeckte zeitlose Literatur. Wir müssen nur schauen: Was gehört auf die Bühne? Diesmal ein Blick auf die Literatur außerhalb Europas: Und zwar auf russische Stücke, die zu Unrecht viel zu wenig aufgeführt werden.

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Die geschlossenen Häuser sind vielleicht eine Chance zur Reflexion. Ein Nullpunkt, von dem Neubesinnung und -bestimmung ausgehen können. Die Wiederentdeckung dieser Bühnenliteratur findet verlorene Geschichten, ausgeschlossene Figuren und vernachlässigte Sprechweisen:

„Tarelkins Tod" von Aleksandr Suchovo-Kobylin (1869)

Aleksandr Suchovo-Kobylin wurde verdächtigt seine Geliebte ermordet zu haben. Erst sieben Jahre später, 1857, wurde er freigesprochen. Sein Fall zählt zu den berühmtesten Skandalen der zaristischen Gesellschaft und erst sein Prozess machte ihn zum Dramatiker. Russische Justiz und Bürokratie stehen im Zentrum seiner scharfzüngigen Triologie. „Tarelkins Tod“ bildet den dritten Teil davon.

Hans Magnus Enzensberger hat eine deutsche Fassung geschrieben. Er findet diese Satire gehört zurück auf die Bühne und zwar so inszeniert, „dass im Stück keine Idioten und keine Verbrecher vorkommen, sondern ganz normale Bürger, die sich in Russland durchschlagen müssen, so gut es geht.“ Der Dreiakter kontrastierte damals übertriebenen grotesk mit dem russischen Realismus, aber bürokratische Schikane und korruptes Rechtswesen sind auch unter Putin Realität. „Der Vampir von St. Petersburg" – so der zweite Titel, schließlich ist der Held ein Vampir – könnte zum Beispiel als turbulenter Slapstick auf die Bühne gebracht werden.

„Tolles Geld" von Alexander Nikolajewitsch Ostrowski (1870)

Wieder ein Alexander, wieder die Justiz. Nikolajetwitsch Ostrowski war Jurist, genauer genommen Gerichtsbeamter und dazu einer der fruchtbarsten russischen Stückeschreiber. Sein Lustspiel „Tolles Geld“ dreht sich um Gier, Selbstvermarktung,

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Kalkül, Materialismus und Manipulation. Die ehrgeizige junge Frau Lidja wickelt den gut vernetzten Checker Wassilkow um den Finger. Keine einfache Rolle in diesem fulminanten Beziehungsdrama. Man ist gespannt, wie sie interpretiert würde.

„Die Unbekannte“ von Alexander Blok (1913)

Alexander Nummero Drei in dieser Reihe war ein Dichter des Übergangs: Nämlich vom Zaren- zum Sowjetreich, vom 19. zum 20. Jahrhundert und an der Schwelle von der Vormoderne zur Moderne, vom Realismus zum Symbolismus. „Der gegenwärtige russische Staatsapparat ist naürlich mieses geiferndes, stinkendes Alter, ein siebzigjähriger Syphilitiker, der mit einem Händedruck die gesunde Jünglingshand infiziert“, schrieb er bildhaft. „Die Unbekannte“, ein lyrisches Drama, das sich mit dem ambitionierten Proletariat und der untergehenden Bourgeoisie befasst, besteht aus drei Akten, die der Autor „Visionen“ nennt. Die erste spielt in einem Beisl am Stadtrand, die zweite stellt eine Traumsequenz dar, an einer Brücke. Die dritte Vision ist in einem Salon verortet.

„Ein Monat auf dem Lande“ von Iwan Turgenjew (1872)

Im Laufe der Geschichte hatten schon zwei Amerikaner aus diesem Theaterstück eine Oper gebastelt. Denn bei Iwan Turgenjews „Ein Monat auf dem Lande“ gibt es nur ein Thema: die Liebe und ihre Spielarten, die da wären: Verzweiflung, Scham, Leidenschaft, Angst und Berechnung. Entsprechend schmerzhaft und gleichermaßen komisch leben und lieben die Figuren aneinander vorbeigeliebt. Von Anfang an trügt das sommerliche Landidyll auf dem Landgut bei Petrov: Unter der Oberfläche brodelt das Begehren Die Zuschauer bekommen alle Variationen der Liebe geboten: Von A wie Amour fou über bis Z wie zärtliche Romanze oder gar zynische Geschäftsanbahnung. Der englische Dramatiker, Komiker und Regisseur Patrick Marber hat eine gestraffte, frisch aufgeputzte Fassung veröffentlicht. Da heißt es dann nur noch: „Drei Tage auf dem Land“.

„Phoenix“ von Marina Iwanowna Zwetajewa (1919)

Zwetajewa erlebte die Oktoberrevolution aus erster Hand. In der Eisenbahn begegnete sie einfachen Menschen und war von der wütenden und gewaltsamen Stimmung schockiert. In ihrem Tagebuch (erschienen unter dem Titel „Auf eigenen Wegen“ schrieb sie: „In der Luft des Zugabteils hingen nur drei scharfe Worte: Bourgeois, Junker, Blutsauger“.

Damals, vor 100 Jahren, mitten im russischen Bürgerkrieg, verfasste sie sechs Versdramen: „Ich begann Stücke zu schreiben; wie eine Notwendigkeit kam es über mich, die Stimme wuchs über die Gedichte hinaus, es waren der Seufzer zuviel in der Brust für die Flöte." Ihre Welt ist aus den Fugen geraten, geplagt von der Moskauer Hungersnot, von Vertreibung und Umsturz. Sie hielt eine eigene verkehrte Welt im Versmaß entgegen.

Für die drei Akte des zeitlosen Theatergedichts „Phoenix“ begibt man sich in ein Schloss. Es ist Silvesterabend, die Vorbereitungen laufen heiß, die Hierarchie zwischen Adel und Diener ist streng. Hinein platzt ein verkleidetes Gespenst: der altersschwache Casanova. Schließlich lautet der Untertitel: „Das Ende Casanovas".

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Die deutsche Bühne: Süßes Nichtstun versalzen