„Prima Facie“, der 2019 uraufgeführte Monolog aus der Feder der australischen Autorin Suzie Miller, ist das Stück der Stunde. 2020 wurde es mit dem Olivier Award, der höchsten Auszeichnung im britischen Theater, ausgezeichnet, seit Frühjahr 2023 ist es am New Yorker Broadway zu sehen. Im deutschsprachigen Raum wird der Monologabend in dieser Spielzeit an insgesamt fünfzehn verschiedenen Häusern gezeigt. Wobei die Formulierung „Stück der Stunde“ einen (hoffentlich) viel zu eng bemessenen Zeitrahmen für ein solch dringliches und hochaktuelles Theaterstück vermittelt. Selbst „Stück des Jahres“ wäre in dieser Hinsicht noch deutlich zu kurz gegriffen.

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Davon ist auch Laura N. Junghanns überzeugt, die Suzie Millers Text in der Dunkelkammer inszeniert: „Ich hoffe sehr, dass all diese Häuser das Stück unbedingt immer weiterspielen und pro Spielzeit mindestens weitere fünfzehn Theater dazukommen. Es ist einfach ein Thema, das auf alle Spielpläne muss.“

An den Grenzen des Systems

Der Inhalt des Stücks in aller Kürze: Tessa, die sich vom Arbeiterkind zur gefeierten Strafverteidigerin hochgeboxt hat, verteidigt vor allem Männer, die wegen sexueller Übergriffe vor Gericht stehen. Als sie selbst Opfer sexuellen Missbrauchs wird, muss sie erkennen, dass sie als Verteidigerin in einem von Männern gemachten juristischen System agiert, das im Falle sexualisierter Gewalt gegen Frauen schlichtweg nicht funktioniert.

„Das Thema ist riesengroß und omnipräsent, denn ‚im Zweifel für den Angeklagten‘ gehört zu den Grundfesten unserer Demokratie“, hält die Regisseurin fest. „Allerdings stoßen wir bei sexualisierter Gewalt innerhalb unseres Rechtssystems leider auch an Grenzen dieses Grundsatzes und müssen deshalb selbstverständlich darüber sprechen.“

Anna Rieser Prima Facie
Anna Rieser. Nach ihrer Schauspielausbildung am Mozarteum Salzburg führte sie ihr Erstengagement ans Linzer Landestheater. Seit der Spielzeit 2020/21 ist die 2019 mit dem Nachwuchs-NESTROY ausgezeichnete Schauspielerin Ensemblemitglied am Volkstheater. 2022 wurde sie in der Kategorie „Beste Schauspielerin“ für den NESTROY nominiert.

Foto: Max Manavi Huber

Der Probenbeginn liegt zum Zeitpunkt unseres Gespräches noch nicht lange zurück. Neben vielen Diskussionen innerhalb des Teams waren auch Gespräche mit Expert*innen aus Wien – wie beispielsweise Beratungsstellen bei sexueller Gewalt, dem 24-Stunden-Frauennotruf sowie Rechtsvertreter*innen – essenzieller Bestandteil des bisherigen Probenprozesses.

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Teilweise erschütternde Erkenntnisse seien dabei an die Oberfläche gekommen, unter anderem, dass nur ein Bruchteil – Statistiken sprechen von einem einstelligen Prozentsatz – aller angezeigten sexuellen Übergriffe zu einer tatsächlichen Verurteilung führt. „Nun sind wir aber ein Theater und keine Redaktion, wir zeigen einen fiktiven Fall auf. Dieser steht allerdings exemplarisch für tausende, auch nicht zur Anzeige gebrachte Gewalttaten“, betont Laura N. Junghanns.

„Es geht natürlich darum, dass das Publikum die Situation nicht nur nachvollziehen, sondern mit Tessa erleben kann, die Geschichte also mit den Mitteln des Theaters so erzählt wird, dass sie sinnlich verständlich wird.“

Kay Voges Volkstheater

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Entkommen unmöglich

Das Stück in der Dunkelkammer zu zeigen sei eine bewusste Entscheidung gewesen, erzählt Michael Sieberock-Serafimowitsch, leitender Bühnenbildner am Volkstheater. „Dieser Raum unterstützt auf fantastische Weise die Intimität, die das Stück fordert“, sagt er. Für die Inszenierung hat er einen „Raum im Raum“ geschaffen, der von neun Bildschirmen umrahmt wird. Eines der zentralen Elemente ist ein Lichtplafond aus Neonröhren. „Ich hatte von Anfang an einen klaren, eher abstrakten Raum vor Augen. Der Lichtplafond schafft einerseits eine kalte Nüchternheit am Anfang des Stücks, später aber auch das notwendig Klaustrophobische. Der Spielort Dunkelkammer ist mit seiner unmittelbaren Nähe von Spieler*innen und Publikum stets ein sehr herausfordernder Raum für Bühnenbildner*innen – erst recht bei dieser so hochbrisanten Thematik“, so Sieberock-Serafimowitsch.

Zur Person: Die Dunkelkammer

unter dem Dach des Volkstheaters ist die intimste Spielstätte des Hauses. Die Nähe zwischen Spieler*innen und Publikum macht besonders intensive Theatererlebnisse möglich. Die Dunkelkammer fungiert zudem als Theaterlabor und ermöglicht es, angstfrei neue Texte und Formate auszuprobieren.

„Ich glaube, dass hier Schauspiel at its best möglich ist, weil man als Spielerin zum Publikum kaum auf Distanz gehen kann und umgekehrt auch dieses sich nicht entziehen kann“, merkt Laura N. Junghanns daran anknüpfend an.

Cousinen Dunkelkammer
Gefeierte Uraufführung. Auch für das Stück „Die Cousinen“ gestaltete Michael Sieberock-Serafimowitsch das Bühnenbild – und verstand dadurch, was die Dunkelkammer braucht.

Foto: Marcel Urlaub

Von allen Seiten beobachtet

„So wie wir uns auch dem Thema des Stücks nicht entziehen können“, fügt Anna Rieser hinzu. „Dass man hier in diesem Raum von allen Seiten beobachtet wird, ist zwar eine große Herausforderung, bringt die Thematik des Stücks jedoch gut auf den Punkt.“ An Tessa findet die Schauspielerin äußerst spannend, dass sie sich als starke, erfolgreiche Frau wohl nie selbst als Opfer sexualisierter Gewalt gesehen hätte. „Das bestätigen umfangreiche Befragungen. Fast alle Frauen verdrängen, dass sie betroffen sein können“, so Rieser. Sie erzählt auch, dass sie bei dieser Arbeit sehr genau weiß, was sie in den Proben braucht. „Ein Soloabend ist durch die dauernde Beschäftigung mit sich selbst sehr herausfordernd. Ich erwarte viel von mir, während der gesamten Probenzeit. Denn erfülle ich meine eigenen Ansprüche nicht, kann ich das kein einziges Mal auf jemand anderen schieben“, sagt Anna Rieser, die ihre klaren Worte am Ende mit einem Lachen versieht.

Die Formel „Prima Facie“ plus Dunkelkammer scheint also Folgendes nahezulegen: Man „spielt“ nicht nur, sondern setzt sich selbst aufs Spiel. Ein bisschen so, wie es auch Tessa tut, als sie sich dazu entschließt, ihre Geschichte vor Gericht zu erzählen. Denn in einem ist sich Tessa sicher: „Irgendwo, irgendwann, irgendwie. Irgendwas muss sich ändern.“

Zu den Spielterminen von „Prima Facie“ in der Dunkelkammer