Ist es eine Oper? Oder ein Oratorium? Oder ein Madrigal? Emilio de' Cavalieris „Rappresentatione di Anima et di Corpo” klingt für Hörer:innen von heute ungewöhnlich. Im Jahr 1600 geschrieben, gilt das Werk als erste Oper. Wer sich nun ein sperriges Hörerlebnis für Liebhaber alter Musik erwartet, wird eine Überraschung erleben: Auch 400 Jahre nach der ersten Premiere macht es Spaß zuzuhören. Regisseur Robert Carsen und Dirigent Giovanni Antonini (mit seinem Alte-Musik-Ensemble Il Giardino Armonico) haben das Werk für das Theater an der Wien in einer Neuproduktion entstaubt, was vom Publikum bei der Premiere mit einem langen Applaus belohnt wurde. Sopranistin Anett Fritsch singt die „Anima“ und erklärt der Bühne, warum sie sich bei der Erarbeitung ihrer Rolle fast wie eine Archäologin gefühlt hat.

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Nach und nach entdeckte ich eine Welt, die nicht in fünf Linien notiert wurde intensiv, komisch, tief und berückend. Ich würde behaupten, das nicht notierte macht mehr als die Hälfte der Musik aus und das muss gefunden werden."

Anett Fritsch über die Arbeit an „Rappresentatione di Anima et di Corpo"

BÜHNE: Robert Carson meinte: Je mehr man sich in das Stück einarbeitet, umso einzigartiger wird es. Wie war das bei Ihnen? Was war der erste Eindruck und wie war der zweite?

Anett Fritsch: Beim ersten Lesen des Klavierauszugs wirkte das Stück eher simpel und fast eindimensional. Doch nach und nach entdeckte ich eine Welt, die nicht in fünf Linien notiert wurde: intensiv, komisch, tief und berückend. Ich würde behaupten, das Nichtnotierte macht mehr als die Hälfte der Musik aus, und das muss gefunden werden.

Künstlerische Freiheit durch genaue Struktur

BÜHNE: Laut de Cavalieris Anweisungen soll vor allem an der Betonung gefeilt werden. Er schrieb: „Sänger sollen auf ihre saubere Aussprache achten, denn Musik ohne Textverständlichkeit sei langweilig und die Zuschauer würden abspringen." Was bedeutet das für die Musiker:innen?

Anett Fritsch: Wir versuchen, sehr genau zu strukturieren, um daraus eine Freiheit zu gewinnen. Sprachliche und musikalische Akzente klingen nicht immer natürlich, auch wegen der veralteten italienischen Sprache. Am Ende sollte es jedoch so klingen, als würden wir die Worte eben erst erfinden. Das braucht größte Genauigkeit und engstes Zusammenspiel zwischen allen Instrumenten und Sängern.

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BÜHNE: Das klingt nach akribischer Feinarbeit.

Anett Fritsch: Ja, teilweise hat es sich angefühlt, als würden wir mit einem feinen Pinsel die Betonung des Textes freilegen. Es ist sehr wichtig, die Sprache plastisch zu gestalten. Das wusste de Cavalieri auch und daher die Anweisung, der Musik zunächst einmal nicht den Vorrang zu geben.

Anett Fritsch verkörpert die „Anima" - die Seele - und Daniel Schmutzhard „Corpo"- den Körper - in Cavalieris „Rappresentatione di Anima et di Corpo" im Theater an der Wien.

Foto: Werner Kmetitsch

400 Jahre alter, aber immer noch gültiger Inhalt

BÜHNE: Zu ihrer Rolle: Wie zeitgemäß ist der Stoff noch?

Anett Fritsch: Auf dem Weg zum Glücklichsein folgt der „Corpo“, der Körper, der „Anima“, der Seele. Die Anima – also ich - versucht dem Körper – Daniel Schmutzhard - zu vermitteln, dass die körperlichen Begierden kurzlebig sind. Sie will nach etwas Höherem streben – wobei sie selbst nicht genau weiß, was das ist. Dann begegnen wir zahlreichen Prüfungen. Auch die Seele wird immer wieder verführt, von den angenehmen und glänzenden Seiten des Lebens. Das ist die Reise, auf die wir uns da begeben, die ja auch heute noch Gültigkeit hat.

BÜHNE: Gab es für Sie einen bestimmten Zeitpunkt an dem Ihnen klar wurde, dass sie Opernsängerin werden wollen?

Anett Fritsch: Ja, eigentlich schon. Ich komme aus einem kleinen Ort, aber es gab dort ein Theater. Meine Eltern sind keine Musiker, haben mich jedoch oft mitgenommen. Irgendwann habe ich dort auch kleinere Rollen gespielt und da war es dann um mich geschehen. Ich war circa 15 oder 16 Jahre alt und hatte keinen Plan B. (lacht) Meine Eltern waren auch lange Zeit um meine finanzielle Sicherheit besorgt. Aber jetzt bin ich 35 und stehe ich seit 15 Jahren auf der Bühne. Gerade in der jetzigen Zeit fühlt es sich noch einmal ganz besonders an, diesen Beruf ausüben zu dürfen.

Anett Fritsch utzhard (Corpo, der Körper), Tänzerinnen & Tänzer und der Arnold Schoenberg Chor auf der Bühne des Theater an der Wien.

Foto: Werner Kmetitsch

Wenn man das Körperliche nicht mit dem Geist ausfüllt, dann bleibt es Hülle und bleibt kalt."

Anett Fritsch

BÜHNE: Für Sie hat der Einstieg gut funktioniert. Haben Sie einen Tipp an junge Sänger:innen?

Anett Fritsch: Es ist schon immer das berühmte Quäntchen Glück dabei. Aber es ist nicht nur Glück. Man muss, ob man mag oder nicht, gesehen werden und vorkommen wollen. Und heute noch mehr als vor 15 Jahren, als ich angefangen habe. Das ist auch eine Sache, mit der ich immer hadere: Denn ich singe zwar sehr gerne auf der Bühne, bin privat hingegen nicht extrovertiert. Social Media fällt mir eher schwer. Auf der anderen Seite nützen diese Netzwerke nichts, wenn die Qualität nicht stimmt. Man muss bereit sein, viel von sich herzugeben - ein hoffentlich langes Berufsleben hindurch.

BÜHNE: Die intensive Auseinandersetzung endet also nicht nach der Probe?

Anett Fritsch: Ich denke, man kann nicht von einer Probe kommen, abschalten und Netflix anmachen. Gerade als Sängerin oder Sänger ist es interessant eine Partitur zu studieren. Das bietet so viel mehr als ein Klavierauszug. Ist es die Oboe, die mit mir spielt? Oder mein Gegenpart? Die Stimme stellt sich anders darauf ein. Und auch zu wissen, unter welchen Umständen die Musik geschrieben wurde, ist mir wichtig. Was ist damals in der Literatur oder Politik passiert? Das macht es für einen als Künstler erst sinnvoll. Wenn man das Körperliche nicht mit dem Geist ausfüllt, dann bleibt es Hülle und bleibt kalt. Anima und Corpo halt!

Zur Person: Anett Fritsch

studierte Gesang in Leipzig, gehörte dem Ensemble der Deutschen Oper am Rhein an, gab beim Glyndebourne Festival ihr Debüt als Almirena in Händels „Rinaldo“, war unter René Jacobs in Glucks „Telemaco“ als Merione am Theater an der Wien zu sehen und sang Fiordiligi in Hanekes „Così fan tutte“-Inszenierung in Madrid. An der Volksoper war sie zuletzt Mimì in „La bohème“ und Pamina in „Die Zauberflöte“.