„Schön, wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf dem Seziertisch.“ – Was für eine Metapher! – Absurd? An den Haaren herbeigezogen? Gewollt exzentrisch? Verrückt? Der Dichter Isidore Lucien Ducasse, bekannt als Comte de Lautréamont, beschwört in seinem Werk „Die Gesänge des Maldoror“ mit diesem Bild die außergewöhnliche Schönheit eines jungen Mannes. Das Buch ist erstmals 1874 erschienen, in einem winzigen, unbedeutenden Verlag, da lebte der Verfasser nicht mehr.

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Unerhörtes schreiben

Der Dichter Lautréamont starb am 24. November 1870 in Paris. Die Stadt wurde von den preußischen Truppen belagert und ausgehungert. Der Zoo wurde „freigegeben“, das heißt, die Tiere wurden den Fleischhackern zugeteilt, die reichen Pariser und Pariserinnen ernährten sich von Elefantenfleisch und Zebrafleisch, von Affen und Schlangen.

Der junge Isidore Ducasse lebte erst seit kurzer Zeit in der Stadt, er war aus Uruguay gekommen, wollte in der glänzenden Metropole Dichter werden, aber ein anderer als die, die er kannte. Er wollte Unerhörtes schreiben. Er wurde krank, der Mann, in dessen Hotel er zuletzt Unterkunft gefunden hatte, erklärte, er sei „am bösartigen Fieber“ gestorben – das meinte, er sei verhungert. Nur vierundzwanzig Jahre hatte er gelebt.

Schleusenmeister der Literatur von morgen

„Die Gesänge des Maldoror“ beeinflussten wie nur wenige Werke die Literatur und nicht nur die französische. Für die Surrealisten waren sie das Werk eines Propheten. Der französische Schriftsteller Philippe Soupault entdeckte während des Ersten Weltkriegs in der mathematischen Abteilung eines Antiquariats – zufällig – ein Exemplar und war begeistert. Er gab das Buch André Breton zu lesen, damit begann der Siegeszug dieses seltsamsten aller seltsamen Werke.

Die Surrealisten stellten „Die Gesänge des Maldoror“ neben die Poesie von Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud. André Gide nannte den Dichter den „Schleusenmeister der Literatur von morgen“. Albert Camus reihte Lautréamont neben Nietzsche und den Marquis de Sade unter „die Vertreter der metaphysischen Revolte, die Söhne Kains“ ein.

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Maldoror als apokalyptische Figur

Der Inhalt des Buches lässt sich nur schwer zusammenfassen. Maldoror – die aufgehende Sonne des Bösen – ist eine apokalyptische Figur zwischen Engel und Satan, ein Aufrührer gegen Gott und die Menschen. Eine Begegnung mit Gott wird so geschildert:

„Betrunken wie eine Wanze, die während der Nacht drei Tonnen Blut geschluckt hat! (…) Der Mensch, der vorüberging, blieb vor dem verkannten Schöpfer stehen, und unter dem Beifall der Filzlaus und der Otter beschmutzte er das erhabene Gesicht drei Tage lang mit Kot!“

Schönheit der Dinge

Lautréamonts Plan war, den Gesängen ein Buch über das Gute nachfolgen zu lassen. Gerade das Vorwort hat er verfasst, die „Poésies“:

„Ich ersetze die Schwermut durch den Mut, den Zweifel durch die Gewissheit, die Verzweiflung durch die Hoffnung, die Bosheit durch das Gute, die Klagen durch die Pflicht, die Skepsis durch den Glauben, die Sophismen durch kühlen Gleichmut und den Hochmut durch die Bescheidenheit.“

Die eingangs zitierte Metapher regte Dichter und Philosophen an, sich Gedanken über die Schönheit zu machen. Und nicht nur über Schönheit, sondern darüber hinaus über jenes luftige Gebilde, das wir „Sinn“ nennen. Der Gürtel weiß nichts von der Schnalle, die Brille nichts vom Etui. Wir sind es, die ein Zusammentreffen der Dinge organisieren. Die Dinge der Welt sind nämlich nur für sich. Die Dinge zueinander in Beziehung zu setzen ist allein unsere Aufgabe. Dadurch erzeugen wir Sinn. Und wenn uns ein Zusammentreffen von verschiedenen Dingen plausibel erscheint, sprechen wir von Schönheit.

Schönheit verlangt immer neue Bilder

Schönheit aber nützt sich ab. Karl Kraus sagte, wer zum ersten Mal Herz auf Schmerz reimte, war ein Genie, schon wer es als Zweiter tat, ein Trottel. Die Schönheit ist anspruchsvoll, sie verlangt vom Sinn, dass er immer neue Bilder liefert.

Lautréamont tat einen großen Schritt in die Freiheit: Die Poesie soll sich um die Plausibilität nicht kümmern. Schön ist, was überrascht. Schön ist, was wir vorher nicht für möglich gehalten haben. Natürlich können wir uns ein zufälliges Aufeinandertreffen einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf dem Seziertisch vorstellen, allzu viel Fantasie ist dazu nicht nötig.

Dass wir uns diese Wendung aber einfallen lassen, um die Schönheit eines jungen Mannes zu beschreiben, das ist mehr als ungewöhnlich. Wir sind aufgefordert, uns nicht nur dieses Zusammentreffen vorzustellen, sondern das Schöne in dieser Konstellation zu entdecken – oder zu behaupten. Wobei ich das Schöne erst entdecken muss, um es zu behaupten. 

Was ist schön?

Die simple Antwort, Schönheit sei „relativ“, jeder finde etwas anderes schön – nein, diese Antwort hat uns nie befriedigt. Sie ist abgeschmackt. Sie ist die Ausrede jener, denen an Schönheit wenig liegt. Das Wahre, Gute und Schöne – das große Bürgertum des 19. Jahrhunderts hat diese drei zum Ziel und Zweck eines guten Lebens erklärt. Wir können befriedigend definieren, was das Wahre ist; wir wissen, was das Gute ist – und beim Schönen stottern und stammeln wir und reden uns auf den Geschmack heraus?

Was aber ist nun schön? Ich möchte noch einmal Lautréamont zitieren, diesmal die ganze Passage:

„Er ist schön wie die Einziehbarkeit der Fänge von Raubvögeln; oder auch wie die Unsicherheit der Muskelbewegungen in den Wunden der Weichteile in der Gegend des hinteren Nackens; oder noch eher wie diese dauernd wirksame Rattenfalle, die immer vom gefangenen Tier neu gespannt wird, also selbsttätig unendlich Nager aufnehmen kann und sogar unter Stroh verborgen funktioniert; und vor allem wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!“

Zur Person: Michael Köhlmeier

Der renommierte ­Schriftsteller mit ­Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte ­Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman  Matou