Mélissa Petit: Ausgefuchst
Stefan Herheim inszeniert zum Auftakt seiner Intendanz „Das schlaue Füchslein“ am MusikTheater an der Wien. Die Hauptrolle singt Mélissa Petit. Es ist ihr erster Janáček. Der Druck ist groß. Aber die junge Französin sagt: Ich liebe Herausforderungen! Und was sagt der Regisseur?
Das Theater an der Wien hat keine Logen mehr. Keinen Stuck. Keine Galerie. Das Buffet ist neu, und der Naschmarkt wurde weggezaubert – dafür gibt es jetzt eine riesige Parkgarage.
Diese Geschichte über „Das schlaue Füchslein“ und Leoš Janáček und die Sopranistin Mélissa Petit und Regiestar und Neo-Intendant Stefan Herheim beginnt mit einem sachdienlichen Hinweis: Gehen Sie NICHT ins Theater an der Wien.
Also: Gehen Sie schon. Nur bloß nicht an die Wienzeile. Außer Sie wollen beim Umbau helfen.
Das Museumsquartier ist jetzt der Ort Ihres Begehrs. In der Halle E (das ist die gegenüber dem Haupteingang) wird zum Auftakt der Ära Herheim Janáčeks großartige Fabel „Das schlaue Füchslein“ zur Aufführung kommen.
„Das Ausweichquartier ist für mich kein Kompromiss, sondern eine tolle Chance, das Theater an der Wien während der Sanierung an einem Ort aufzustellen, den ich supersexy finde. Unmittelbar von wunderbaren Museen, anderen Bühnen und dem brummenden Stadtleben umgeben, lassen sich hier Synergien freisetzen, die für ein lebendiges Musiktheater maßgeblich sind“, sagt Stefan Herheim.
Die Sache mit dem Libretto
Das ist höflich. Das ist enthusiastisch. Das spricht für ihn. Aber in der Praxis ist es eine Herausforderung, eine Halle zu einem Opernhaus umzufunktionieren und dann dort auch noch die neue Intendanz zu starten. Das allein verdient Respekt.
„Ich bin ein Challenge-Girl“, sagt Mélissa Petit. Seit einem Jahr bereitet sich die Französin auf ihre Rolle der Füchsin Schlaukopf vor. „Es ist die größte Herausforderung meines Lebens. Ich habe noch nie Janáček gesungen. Ich habe noch nie auf Tschechisch gesungen. Aber ich liebe es, wenn ich gefordert bin und mich richtig anstrengen muss. Wenn man dann einmal verstanden hat, wie Tschechisch funktioniert, ist die Oper leicht zu singen. Die Musik ist so stark, dass es eigentlich kein Libretto braucht. Sie ist direkt, und man weiß bei jedem Ton, was Janáček gemeint hat.“
Die Haushälterin ist schuld
Die Geschichte der Oper in drei Sätzen: Ein Förster fängt eine Füchsin. Nachdem sie auf seinem Hof Hahn und Hennen getötet hat, flieht sie – und heiratet einen Fuchs. Als sie jedoch den Wilderer Háraschta überlisten will, muss sie dafür mit dem Leben bezahlen.
Oder, wie es Regisseur Stefan Herheim erklärt: „Janáčeks Oper handelt von einem Förster, der ein Füchslein im Wald fängt und vergeblich versucht, es zu zähmen. Dabei geht es eigentlich um etwas ganz Grundsätzliches, um die Schöpfung per se und um eine pantheistische Vorstellung von der Welt, in der die Versöhnung des Einzelnen mit sich selbst die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben bildet.“
70 Jahre ist Leoš Janáček alt, als er die Oper schreibt, und er ist zu einer um 37 Jahre jüngeren Frau in einer Liebe entbrannt, die sich nur auf dem Papier seiner Briefe erfüllt. Die Entstehungsgeschichte der Oper ist recht trivial. Janáčeks Haushälterin ist Fan einer illustrierten Fortsetzungsgeschichte in einer Brünner Tageszeitung. Sie liebt die Zeichnungen, die Texte und die Bildunterschriften. Tiere benehmen sich wie Menschen! Sie zeigt Janáček den Comic.
Tiere sind Menschen und umgekehrt
Janáček liebt die Natur, versucht, ihren Sound in Noten zu übersetzen. Vielleicht will er ja eine Oper daraus machen. Er macht. Er komponiert eine Partitur, von der er sagen wird, sie sei das Beste, was er je geschrieben hat.
Immer schon war er überzeugt, dass es eine metaphysische Verbindung zwischen Mensch und Tier gibt. Was dem einen geschieht, geschieht auch dem anderen, und er war begeistert von der Rhythmik und Melodik der tschechischen Umgangssprache, die er mit Tierstimmen und Lauten der Natur mischt.
Schöner als BR-Klassik-Moderatorin Sylvia Schreiber kann man diesen Sound-Cocktail kaum beschreiben: „Wer einmal Janáčeks Grillen aus dem Orchestergraben gehört hat, nimmt ihr Gezirpe in freier Wildbahn fortan als süßes Liedchen wahr. Was Janáček aus Sängerinnen und Sängern herausholt, ist nicht nur eine hübsche Arie – da muss nach Noten gelacht, geprustet, gejault, gejodelt, gezwitschert und gegluckert werden.“
Zur Person: Leoš Janáček
Erst ein Jahr vor seiner Pensionierung, 1918, wurde seine Oper „Jenůfa“ durch die Premiere an der Wiener Hofoper zum Welterfolg. Der Mähre war glühender Anhänger des Panslawismus und sammelte unablässig Geräusche der Natur – sogar den letzten Atemzug seiner Tochter zeichnete er auf. JanáÊek starb 1928. Zu seinen erfolgreichsten Werken gehören unter anderem „Das schlaue Füchslein“ und „Aus einem Totenhaus“.
Janáček allein im Ferienhaus
Erfüllt von der Melancholie der unerfüllten Liebe sitzt Janáček also in seinem Ferienhaus in Hukvaldy, seinem Geburtsort am Rande der Karpaten, und komponiert vor sich hin und übersetzt seine Gefühlswelt in Noten: Das Englischhorn, dominant eingesetzt, macht sein Liebesleiden hörbar. Der Förster trägt autobiografische Züge und darf in seinem großen Schlussmonolog seinen Frieden mit dem ewigen Eros schließen. Und Janáček komponiert auch eine der beiläufigsten Sterbeszenen der Operngeschichte: Die Füchsin wird erschossen. Überraschend, ohne lange Arie, dafür lässt er das Orchester am Ende eine Hymne auf das Leben anstimmen.
Ich kenne keine Sterbeszene, deren Traurigkeit ergreifender und wirklicher ist.
Milan Kundera, Bestsellerautor
Bestsellerautor Milan Kundera: „Ich kenne keine Opernszene mit einem derart banalen Dialog, und ich kenne keine Szene, deren Traurigkeit ergreifender und wirklicher ist. Janáček ist es gelungen, zu sagen, was nur eine Oper sagen kann: Die Musik wird die vierte Dimension einer Situation, die ohne sie belanglos, beiläufig und stumm bliebe.“ Spannend und auch mutig, dass Stefan Herheim genau mit dieser Oper eröffnet.
Herheim: „‚Das schlaue Füchslein‘ ist ein bezauberndes, aber auch rätselhaftes und zum Teil verstörendes Stück, da es sich nicht mit herkömmlicher Logik erschließt. Wenn man sich aber darauf einlässt, lässt es einen nicht mehr los. Denn diese Geschichte über Tier und Mensch stellt grundsätzliche Fragen – Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? –, die unsere Intuition herausfordern und sich jeder Eindeutigkeit entziehen. Janáčeks Musik vermittelt etwas, was sich nicht in Worte fassen lässt. Gerade das macht es zum großen Musiktheater: Es stiftet Sinn durch Sinnlichkeit.“
Fuchskostüm oder nicht …
Die Uraufführung der Oper am 6. November 1924 in Brünn wurde ein Erfolg. Die von Max Brod ins Deutsche übersetzte Variante dafür nicht – bis Walter Felsenstein sie 1956 an der Komischen Oper in Ostberlin erneut herausbringt. Sie wird ein Triumph. Irmgard Arnold, die damals das Füchslein Schlaukopf spielte, musste wochenlang üben, sich wie ein Fuchs zu bewegen. Arnolds sängerischer und darstellerischer Leistung ist es unter anderem zu danken, dass die Inszenierung 218-mal gespielt wird.
Googeln Sie, und staunen Sie über Arnolds Fuchskostüm, in dem sie über die Bühne turnen musste. Seit damals gibt es Inszenierungen in Tierkostümen, andere ohne und Mischformen, und so ist es eine der meistgestellten Fragen an den/die zuständige*n Regisseur*in. Also, Herr Herheim: Tierkostüme oder nicht? Oder wird es gar eine Transformation geben, wie man hört?
„Die Frage, wie sich Natur mit den Mitteln der Kunst darstellen lässt, ist auch eine ganz grundsätzliche, die wir bewusst auf eine sehr spielerische Weise ins Zentrum dieser Inszenierung rücken. Wir zeigen die Halle E als eine große Theaterwerkstatt, eine Werkshalle, in der Illusionen hergestellt werden. Das Paradox des Theaters ist ja, dass jeder weiß, dass der Wald auf der Bühne aus gemalten Kulissen besteht, wobei der Zauber und die Zuordnung von Bedeutung einer Autosuggestion zugrunde liegt. Theater appelliert an das Künstlertum in jedem von uns und findet schließlich im Inneren statt. Somit ist auch der Tod auf dem Theater Ausdruck einer schöpferischen Lebensfreude. ‚Das schlaue Füchslein‘ wird so auch zur Oper über die Kunstform Oper, zur großen Geisterbeschwörung einer immer wieder totgesagten, als Hommage an die Fantasie aber nicht totzukriegenden Kunstform“, so Stefan Herheim.
Wenn Füchse mit Fröschen
Tiefer verbeugen kann man sich vor Leoš Janáčeks Werk eigentlich nicht mehr. Spannend, denn Janáčeks Opern sind definitiv keine Blockbuster, und dennoch ist er derzeit einer der meistgespielten Komponisten.
Während Stefan Herheim sein „Füchslein“ zur Aufführung bringt, holt die Staatsoper ihre „Jenůfa“ aus dem Repertoire auf die Bühne (siehe Story S. 44). Spannend. Objektiv gesehen sind die Storylines bizarr. Füchse und Frösche unterhalten sich. Getrunken wird immer und überall.
Und generell wird der Beweis erbracht, dass Oper nicht immer logisch sein muss. Aber das kann Puccini auch – etwa wenn er eine Schwindsüchtige mit voller Inbrunst über den Dächern von Paris trällern lässt.
BR-Moderatorin Sylvia Schreiber: „Es ist also völlig wurscht, ob man versteht, wovon die Oper handelt. Leoš Janáčeks ausgefuchste Musik erinnert an den Blick durch ein Kaleidoskop, diese Röhre mit den bunten Scherben im Inneren. Man kann es schütteln, und immer wieder verändert sich das farbige Fenster. Was man dann wahrnimmt, ist irgendwie märchenhaft und dabei doch real. Man fühlt sich trunken und dennoch wach im Geist – und möchte Janáček einmal kurz Danke sagen. Oder auf Tschechisch: Děkuju!“
Ein Lichtstrahl von Stimme
Voll von Dankbarkeit und einer unglaublichen Gelassenheit ist Mélissa Petit. Am Theater an der Wien durfte sie bereits eine große Premiere singen. Eine, die viele sahen, aber bei der niemand applaudieren konnte: Christoph Waltz’ „Fidelio“-Inszenierung. Sie fiel Corona zum Opfer und wurde im Fernsehen übertragen.
Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb damals: „Den Höhepunkt der Aufführung bildete Mélissa Petit als Gefängnisleiter-Tochter Marzelline, deren federleichter Sopran und fein akzentuiertes Spiel durch und durch strahlte.“
Ihr Sopran ist tatsächlich das, was man als lichtdurchflutet beschreibt, ihre Stimme leuchtet, und sie hat eine hohe Wiedererkennbarkeit.
„Peter Heilker und ich haben Mélissa als Gilda in der Bregenzer ‚Rigoletto‘-Inszenierung erlebt und wussten sofort: Das ist eine Sängerdarstellerin, mit der wir dieses Stück erarbeiten können. Entsprechend freue ich mich, dass sie nun bei uns ist und wir gemeinsam diese spannende Rolle gestalten können“, so Regisseur Herheim.
Vom Fuchs zur Blanche
Wir treffen Mélissa Petit im Vorraum der Halle E. Sie kommt direkt vom Flughafen. Es ist ihr erster großer Termin nach der Babypause. Geboren und aufgewachsen ist Petit in Saint-Raphaël, einer Kleinstadt, 24 Kilometer entfernt von Cannes. „Ich habe schon als Kind gesungen, und die anderen Kindern haben mich und meine Stimme bewundert, davon wollte ich mehr.“ Sie trifft auf Fabienne Chanoyan, die bis heute ihre Gesangslehrerin ist. Mit 20 kommt sie ins Opernstudio der Staatsoper Hamburg. Fünf Jahre später ist Petit im Ensemble der Oper Zürich. Sie singt Mozart, Händel, Monteverdi, Beethoven – und jetzt eben zum ersten Mal Janáček.
Die Liebesinsel als Schlachtfeld
Dass die frühe Oper mächtig Frauenpower besaß, demonstriert die Wiener Kammeroper zum Intendanz-Start von Stefan Herheim. Ilaria Lanzino setzt Francesca Caccinis „La liberazione“ in Szene, in der sich zwei Frauen um einen Mann matchen. Weiterlesen...
„Für mich sind in dieser Oper alle großen Fragen impliziert: Freiheit, Liebe, Tod und das Feiern des Lebens. Ich fühle mich wohl in der Welt, die Janáček musikalisch für mich als Sängerin erschaffen hat. Er ist, wie ich schon gesagt habe, immer am Punkt, er macht es uns leicht, in den Charakter zu kommen. Ich fühle mich auch in meinem Bezugsrahmen abgeholt: Niemand will in einem Käfig leben, ich persönlich will auch niemanden, der mich von dem abhält, was ich tun möchte. Aber dafür zahlt die Füchsin einen großen Preis, dafür wird sie getötet.“
Vier Stunden dauert das Fotoshooting zu dieser Story und dem Cover. Vier Stunden, die wie im Flug vergehen. „Eigentlich“, sagt Mélissa Petit irgendwann lachend, „müsste jede Frau nach der Babyzeit ein Fotoshooting geschenkt bekommen. Es hebt den Selbstwert.“
Eltern – also vor allem Mütter – wissen, was sie meint. Beim Gehen reden wir über Wien und den Luxus, in einer Stadt zu leben, in der es zwei so künstlerisch wichtige Häuser gibt wie das Theater an der Wien und die Wiener Staatsoper. „Ich habe gesehen, sie haben dort den ‚Dialogues des Carmélites‘ am Spielplan. Meine Lieblingsoper. Ich würde alles dafür tun, die Blanche zu spielen …“
Und damit wäre auch die Frage nach ihren Zielen beantwortet.