Mit Abstrusem Furore gemacht
Unter Roland Geyer wurde das Theater an der Wien seit 2006 zum international beachteten Opernhaus. Nach 16 Jahren Intendanz verabschiedet er sich und blickt auf eine künstlerische Bilanz zurück, die sich demnächst auch in Buchform sehen lassen kann.
Roland Geyer in „seinem“ Opernhaus mit Geschichte. Emanuel Schikaneder hat das Theater an der Wien 1801 eröffnet, „Fidelio“ wurde hier uraufgeführt, in den Achtzigern tanzten die „Cats“. Unter Geyer wurde es 2006 wieder Opernhaus.
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Die No-na-Frage zu Beginn: Worauf ist Roland Geyer stolz, was ging daneben? „Jedes Mal denke ich mir, ich überleg mir etwas Besonderes zu dieser Frage. Aber das bringt nichts, denn es gilt auch für mich, was schon Karajan festgestellt hat: Man hofft, dass 30 Prozent der Projekte auf höchstem Level gelingen. Dann bleiben 60, mit denen man zufrieden ist, und mit 10 Prozent ist man es nicht. Wenn ich jetzt 30 Prozent von 327 nehme, dann müsste ich Ihnen fast 100 Werke aufzählen“, antwortet Roland Geyer. In seinen 16 Jahren am Theater an der Wien und in der Kammeroper konnte er 197 szenische Premieren, dazu rund 130 konzertante Opern, in Summe 327 verschiedene Stücke von mehr als 110 Komponist*innen präsentieren.
Als 2006 das Theater an der Wien Opernhaus im Stagione-Betrieb wurde, war Roland Geyer, der als Musikintendant der Stadt seit 1997 durch seine Festivals „KlangBogen“ und „OsterKlang“ das Haus gut kannte, ein logischer Gründungsintendant. Und natürlich nennt er doch ein paar der gelungenen 30 Prozent: der preisgekrönte „Peter Grimes“, die Serie Damiano Michielettos, die mit Puccinis „Il trittico“ mit Dirigent Kirill Petrenko begann, die Erfolge von René Jacobs, Claus Guths Monteverdi-Zyklus und seine szenischen Händel-Oratorien. Mit Händels „Giulio Cesare“ trat auch Christof Loy als meistbeschäftigter Regisseur 2007 für die erste Barockoper der Ära Geyer an, „in der Gesamtheit von viereinhalb Stunden. Man saß bis halb zwölf im Theater. Das war damals schon eine Herausforderung für das Wiener Publikum.“
Schnell vertraute ihm das Publikum auch bei Raritäten, wie etwa von Einems „Besuch der alten Dame“, mit der unter dem oft engagierten Regisseur Keith Warner ein Überraschungscoup gelang: „Am Tag der Premiere lag die Auslastung bei unter 80 Prozent, und am nächsten Morgen, eine Stunde nach Kassaöffnung, war alles ausverkauft!“ „Natürlich gibt es Lieblingsstücke, wo ich wusste, die sind schwer zu beleben, Catalanis ‚La Wally‘ oder de’ Cavalieris ‚Rappresentatione‘, die erste überlieferte Oper, die Robert Carsen inszenierte, dem es auch mit Poulencs ‚Dialogues des Carmélites‘ glückte, dass ganz Wien kopfstand. Mich hat immer begeistert, wenn wir mit Werken, die dem Publikum völlig abstrus erschienen sind, Furore gemacht haben und eine Sogwirkung erzielen konnten. Es gab nur wenige Produktionen, wo wir unter 85 Prozent Auslastung geblieben sind. Dass dies meist die Uraufführungen traf, hat mich betrübt, aber mit dem muss man in Wien leben“, so Geyer.
Dreimal hat er auch selbst Regiehand angelegt, etwa bei „Hans Heiling“ von Heinrich Marschner. Daneben kam es zweimal fast zur Absetzung einer Produktion aus künstlerischen Gründen. Als „Exorzist“-Regisseur William Friedkin 2012 bei der Wiederaufnahme von „Les contes d’Hoffmann“ nicht, wie ausgemacht, sein Konzept für die alle drei Frauenrollen singende Marlis Petersen adaptieren wollte, sprang Roland Geyer selbst ein. „Ich habe das komplett neu gemacht, nur 50 Prozent des Bühnenbildes verwendet. Der Olympia-Akt spielte in einem Theatermuseum. Ich habe den Chor mit den Kostümen aus vergangenen Produktionen eingekleidet. Einer war Hamlet, die andere Ophelia, der dritte Lucio Silla, und Olympia hat ihre Arie auf einem Catwalk gesungen. Das war gelungen, auch ‚Hans Heiling‘, nur bei Verdis ‚Macbeth‘ hab ich gemerkt, dass ich den Protagonisten zu sehr mein Korsett überstülpen wollte“, erinnert sich Geyer selbstkritisch. Inszenieren würde er durchaus gerne wieder, doch „diese Frage stellt sich derzeit nicht“.
Haydn brauchte Harnoncourt
Regienöten verdankt er auch die letzten Großtaten eines besonders prägenden Künstlers und „Mentors für mich und das Haus“, wie Roland Geyer Nikolaus Harnoncourt bezeichnet. Nachdem Martin Kušej kurzfristig die Regie für „Così fan tutte“ zurückgelegt hatte, dirigierte Harnoncourt 2014 halbszenisch alle drei Mozart-Da Ponte-Opern innerhalb von nur drei Wochen. Sein letzter Auftritt mit dem Concentus Musicus im Haus. Angetreten war er 2007, geplant war Monteverdis „Ulisse“. Doch meinte Harnoncourt spontan: „Für Monteverdi hab ich schon so viel getan, jetzt braucht mich Haydn“ – und entschied sich für dessen „Orlando paladino“, nachdem Geyer bereits die vielen „Ulisse“-Rollen hochkarätig besetzt hatte.
Gerne hätte Geyer noch Korngolds „Tote Stadt“, außerdem ein Pasticcio aus Operetten, die im Theater an der Wien uraufgeführt wurden, von Claus Guth auf die Bühne bringen lassen wollen, doch das wurde durch die Sanierung des Hauses verhindert. Dass sein Nachfolger Stefan Herheim, mit dem er sich bestens versteht, jetzt am Ausweichstandort MQ antreten muss, findet Geyer zum einen gut, „denn im MQ kann Stefan Herheim auch neue Publikumsschichten ansprechen“. Zum anderen fehle natürlich das, was die Identität des Opernhauses ohne Ensemble, ohne fixes Orchester, neben der Handschrift des Direktors vor allem ausmache: das Haus selbst.
Überwiegend Freude
Eine neue Intendanz hat Roland Geyer derzeit nicht im Sinn, und der Abschied fällt ihm im Moment auch gar nicht schwer, zu sehr überwiegen Freude und Zufriedenheit. Außerdem wartet auf Geyer als Vorsitzender der Volkstheaterstiftung und des Aufsichtsrats eine „wirklich intensive und spannende Aufgabe. Im nächsten Jahr unterrichte ich noch ein letztes Mal und führe meine Klasse zur Mathe-Matura, außerdem sitze ich im Universitätsrat der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Die letzten Jahre mit der Pandemie haben viel Kraft gekostet, viel Frustration gebracht. Ich versuch jetzt, auch wieder ein bisschen zu leben.“ Aber natürlich: „Sag niemals nie.“