„Sexdate“ wäre heute vielleicht eine passende Bezeichnung, um zu beschreiben, was in Arthur Schnitzlers 1912 uraufgeführtem „Reigen“ in gleich zehnfacher Ausführung passiert. Man trifft sich, tauscht die ein oder andere Bemerkung aus und schläft miteinander. So weit, so bekannt. „Natürlich stimmt das nicht ganz, denn der Besuch bei einer Sexarbeiterin ist kein Sexdate“, bemerkt Franz-Xaver Mayr, der das Stück im Rahmen der Festwochen Gmunden inszeniert. Trotzdem möchte er betonen, dass keiner der zehn Szenen etwas Obskures oder Außergewöhnliches anhaftet. „Was die Menschen im ‚Reigen’ auf der Bühne tun, passiert ständig irgendwo auf der Welt“, hält der Regisseur fest.

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An seine erste Begegnung mit Schnitzlers Stück, das zur Zeit seiner Uraufführung von zahlreichen Skandalen begleitet war, erinnert er sich noch gut. „Als wir es in der Schule gelesen haben, dachte ich mir unterbewusst die ganze Zeit, dass es um eine Geschlechtskrankheit geht, die alle Schichten durchwandert. Als ich es nun für die Inszenierung wieder gelesen habe, fiel mir das wieder ein“, erzählt er lachend. In der Produktion, die ab 23. Juli im Stadttheater Gmunden zu sehen sein wird, werden diese frühen Assoziationen allerdings keine Rolle spielen.

Menschen, die Lust aufeinander haben

„Die entscheidende Frage ist, was uns der Text heute sagt“, fasst Franz-Xaver Mayr zusammen. „Ich würde sagen, dass es aus heutiger Sicht um Menschen geht, die in bestimmten Strukturen leben und innerhalb dieser Strukturen Sehnsüchte für Dinge entwickeln, die sie gerade nicht haben. Schwärmereien, Zärtlichkeiten oder einfach nur Sex“, schildert er seine Gedanken. Und bringt es – die Einfachheit dieser Aussage umarmend, anstatt davor zurückzuschrecken – folgendermaßen auf den Punkt: „Man sieht Leute, die Lust aufeinander haben.“

Schnitzlers Text im Licht heutiger Diskurse zu betrachten, zog auch einige Anpassungen nach sich, wie der in Hallein geborene Regisseur im Interview erzählt. „Eine Frau, die sich ziert, die Nein sagt, aber Ja meint, muss man heute im Theater nicht mehr zeigen. Die sollte man sich auch nicht erwarten, wenn man sich im Jahr 2022 eine Schnitzler-Inszenierung ansieht.“

Ein Stück in einer Minute: Reigen von Arthur Schnitzler
Am 23. Juli feiert Franz-Xaver Mayrs Inszenierung des „Reigen“ bei den Festspielen Gmunden Premiere.

Foto: Alexis Pelekanos

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Suche nach Alternativbildern

Beschäftigt man sich mit dem Stück, kommt man fast nicht umhin, seine von Skandalen geprägte Aufführungsgeschichte immer wieder von Neuem aufzurollen. Das tut dem Text nicht besonders gut, merkt Franz-Xaver Mayr an. „Es ist ein bisschen wie bei Thomas Bernhards ‚Heldenplatz‘, das auch immer auf diesen Skandal hin gelesen wird. Aber der Skandal steckt nicht in dem Text, sondern darin, was das Publikum damals damit gemacht hat. Mich interessiert diese Skandalgeschichte deshalb auch nicht besonders. Wenn wir aus heutiger Sicht auf den Text schauen, hat er auch viel an skandalösem Potenzial verloren.“

Ob es in dem Stück nicht auch um Machtunterschiede und Hierarchien geht, wurde der Regisseur, der unter anderem bereits Stücke von Thomas Köck und Miroslava Svolikova, wie auch Bernhards „Heldenplatz“ inszenierte, in den vergangenen Wochen immer wieder gefragt. Das sei zwar durchaus der Fall, bemerkt Mayr, der in seiner Inszenierung aber lieber nach Alternativbildern zu jenen Unterdrückungsmechanismen suchen will, die einem tagtäglich in der Zeitung begegnen. „Das bedeutet nicht, dass es nicht noch in der Welt wäre“, merkt er an, möchte sich aber lieber auf Bilder konzentrieren, die möglicherweise dabei helfen, „mit der eigenen Sexualität und Liebe klarzukommen, um damit in Sicherheit und erfüllt zu leben“.

Es geht darum, mit vollen Vertrauen hineinzugehen, sich dabei aber auch immer bewusst zu sein, dass man nicht zu sehr an den Buchstaben festkleben darf.

Franz-Xaver Mayr

Dem Text vertrauen

Schnitzlers Sprache begeistert Franz-Xaver Mayr, der, wie er erklärt, nahezu alles in seiner Arbeit auf der Basis von Gefühlen entscheidet, vor allem aufgrund ihrer Musikalität. Eine Eigenschaft, die er schon bei vielen österreichischen Autor*innen beobachtet hat. „Man muss diese Sprache immer auch als Musik begreifen – nicht nur, aber zu einem gewissen Anteil. Den Rhythmus zwar nicht verkrampft nach vorne schieben, aber ihn spüren, wissen, dass er da ist.“ Auch der „Reigen“ enthalte diese starke musikalische Komponente. „Die Zeilen funktionieren auf eine Weise zueinander, die Musik sehr ähnlich ist“, erläutert der Regisseur und erkennt darin schon eine gewisse Erotik. „Die Menschen sprechen miteinander, als würden sie miteinander singen, tanzen oder sich küssen.“ Um das hör- und spürbar zu machen, sei es wichtig, sich auf den Text zu verlassen – „auf jedes Komma, jeden Punkt und jeden einzelnen Moment, in dem sich zwei Sätze begegnen.“

Dem Text Vertrauen schenken zu können, ist für ihn eine wichtige Voraussetzung. „Man nähert sich einer Sache mit einem gewissen Vorschussvertrauen, damit man sie kennenlernen und erfahren kann. So ist das für mich auch mit Texten“, sagt Mayr. Gleichzeitig darf man nicht blauäugig sein, ergänzt er nach einer kurzen Pause. „Es geht darum, mit vollen Vertrauen hineinzugehen, sich dabei aber auch immer bewusst zu sein, dass man nicht zu sehr an den Buchstaben festkleben darf. Denn das Resultat findet immer im Heute statt.“

Gemeinsam schwimmen

Was ihm in der gemeinsamen Arbeit wichtig ist, ändere sich ständig, so Mayr. Zu einem, in seinen Augen fast schon „kitschigen“ Gedanken, kann er sich dennoch durchringen: „Wenn während einer Probe ein Prozess wunderschön läuft, denke ich mir manchmal, dass man daraus doch etwas für das Leben außerhalb des Theaters ableiten könnte. Wie es sich gestalten ließe, um gemeinsam vorwärts zu kommen, zum Beispiel.“

Das Besondere am Theater sei schließlich, dass Menschen zusammenkommen, die wochenlang nicht wissen, was genau passiert und trotzdem spüren, dass in eine Richtung geht. Und es über Wochen hinweg schaffen, diesen fragilen Prozess nicht kaputtzuschlagen. „Sie halten das gemeinsame Schwimmen aus, bis sich in dieser Suppe irgendwann herauskristallisiert, was es werden könnte. Mit dieser Geduld und Zuversicht sollten eigentlich alle Gesellschaften funktionieren“, bringt er seine Überlegungen auf den Punkt. Er selbst, fügt er hinzu, hatte irgendwann keine andere Wahl mehr. „Im Theater wie auch im Leben geht mir in einem Kontrollmodus schnell die Kraft aus. Und auch die Kreativität.“

Warum sich das Theater in unseren Gesellschaften hält, hat für Franz-Xaver Mayr zwei Gründe. „Zunächst einmal weil es, wie Thomas Bernhard sagt, Wichtigtuerei ist“, erklärt er lachend. „Aber auch, weil es die Möglichkeit bietet, etwas gemeinsam zu probieren. Und damit meine ich nicht unbedingt die Probe eines Theaterstücks, sondern das Ausprobieren eines gemeinsamen Weges. Da gibt es für mich eine starke Verwandtschaft zwischen dem Herstellungsprozess eines Theaterstücks und dem Leben an sich.“