Vor 100 Jahren schrieb Arthur Schnitzler „Fräulein Else“, neunzig Jahre später studierte Schauspielerin Julia Riedler eben jenen Text ein, um ihn als Abschlussmonolog an der Schauspielschule vorzusprechen. Leonie Böhm, damals noch mitten im Regiestudium, saß im Publikum, kam im Anschluss auf Julia Riedler zu und sprach folgende visionäre Worte aus: „Eines Tages machen wir den zusammen.“

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Wer möchte, kann nun versuchen, aus dem eingangs erwähnten Zahlenmaterial eine Art von magischer Formel abzuleiten – unterm Strich wird aber einfach Folgendes dabei herauskommen: Dass diese beiden Künstlerinnen nun „Fräulein Else“ am Arthur-Schnitzler-Platz realisieren, ist schlichtweg naheliegend. Und natürlich auch „total aufregend“.

Die in Salzburg geborene Schauspielerin Julia Riedler wird das im Laufe unseres Gesprächs mehrmals sagen. Wobei die Begeisterung für das Projekt mit jedem Mal deutlicher spürbar wird.

Ganz nah dran

Auch der Text selbst fühle sich unglaublich nahe an, erklärt Regisseurin Leonie Böhm, die seit ihrem Kennenlernen während des Studiums schon häufig mit Julia Riedler gearbeitet hat. Bei „Fräulein Else“ ist es jedoch zum ersten Mal so, dass sie die Inszenierung von Beginn an gemeinsam entwickeln. Wir sitzen im Besprechungsraum der Factory des Wiener Volkstheaters. Lebhaft ergänzen die beiden Künstlerinnen einander – bis irgendwann die Synapsen zu zischen beginnen.

Leonie Böhm, die mit „Fräulein Else“ ihr Wien-Debüt feiert, sagt: „Die Probleme, die es in diesem Monolog gibt, sind in meinem eigenen Leben so wenig gelöst, dass es für mich sofort total Sinn ergeben hat, ihn jetzt zu machen. Dieser Weg der Annäherung, der bei anderen Stoffen durchaus stattfindet, fiel hier fast komplett weg. Darüber hinaus hat der Text für mich auch sehr viel mit Julia zu tun.“

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Im Grunde sei sie zusammen mit Else älter geworden, führt Julia Riedler nun ihre Sicht des Gedankens weiter.„Ich habe mich damals, als ich mich in diesen Text verliebt habe, als Else gesehen und sehe mich auch heute wieder als Else, erkenne jetzt aber andere Aspekte in ihr. Diese Entwicklung interessiert uns auch in der Auseinandersetzung. Vielleicht weiß ich manche Dinge nun besser, kann sie deshalb aber nicht unbedingt besser handeln – und habe auch nicht plötzlich alle Antworten parat.“ Es gibt offenbar kein Alter, das einen vor zischenden Synapsen bewahrt.

Und vielleicht ist das auch ganz gut so. Zurück zum Gefühl der Nähe, das sich im Laufe des Gesprächs als Schlüssel für Leonie Böhms und Julia Riedlers Theaterarbeit herausstellt. Und die im Idealfall das Resultat einer Einladung ans Publikum ist, in einen gemeinsamen Denkprozess einzusteigen. Auch im Interview wird deutlich, was die beiden Künstlerinnen meinen, wenn sie sagen, dass die wirkliche Begegnung – der Moment, in dem man sich tatsächlich aufeinander einlässt – eine der Grundvoraussetzungen für ihre Arbeit ist.

Julia Riedler
Julia Riedler wurde 1990 in Salzburg geboren und studierte Schauspiel in Hamburg. Ab 2015 gehörte sie zum Ensemble der Münchner Kammerspiele, seit 2020 arbeitet sie frei.

Foto: Lukas Gansterer

„Ich mag es, wenn an einem Theaterabend ein gemeinsamer Konzentrationsraum entsteht, in dem man die Sätze, die man zuvor auswendig gelernt hat, gegenwärtig weiterdenkt und das Publikum dazu einlädt, sie gegenwärtig mitzuerleben. Im Idealfall kommt es zu einer Form von Ansteckung“, so Julia Riedler, deren hellwacher, offener Blick vermuten lässt, dass sie beim Aussprechen dieser Sätze genau so einen Moment im Kopf hatte.

ObnundieNähezuerstdaistund dann die Ansteckung erfolgt oder um- gekehrt, ist ein bisschen wie die berühmte, aber auch verdammt abgedroschene Fra- ge nach der Henne und dem Ei. Und es tut auch eigentlich nichts zur Sache. Fix ist, dass es sich bei der von Julia Riedler angesprochenen „Ansteckung“ um die allerschönste Form einer solchen handelt. Nämlich um jene, die nur im Theater stattfinden kann (vielleicht sollte man das, mitten in der Erkältungszeit, kurz erwähnen).

„Bei der Art, wie wir Theater machen, ist es so, dass wir die Texte als Auseinandersetzungs- und Gesprächsanlass begreifen, was wiederum bedeutet, dass wir wirklich mit den Zuschauer*innen in einen Dialog treten wollen – sie als Teil dieses Gefüges adressieren“, fügt Leonie Böhm hinzu. Im Grunde sei es immer ihr Wunsch und Bestreben, einen emanzipatorischen Gedanken aus einem Stoff herauszuarbeiten, ihn mit dem Publikum zu teilen und so vielleicht zu einer Form von Befreiung zu finden.

„Für mich geht es bei ,Fräulein Else‘ ganz stark darum, sich von dem Druck zu befreien, den die patriarchalen Machtstrukturen, in denen wir heute immer noch leben, mit sich bringen. Ich will nicht zu viel vorwegnehmen, aber vielleicht stirbt am Ende ja nicht Else, sondern vielleicht sterben genau diese Strukturen.“

Vielleicht stirbt am Ende ja nicht Else, sondern vielleicht sterben diese patriarchalen Strukturen.

Leonie Böhm, Regisseurin

Tabus benennen

Die Frage, ob eine dermaßen lange und auch intensive Arbeitsbeziehung so etwas wie Routine entstehen lasse, verneint Julia Riedler sofort. Und setzt mit ihrer sonoren und leicht dialektal eingefärbten Stimme zu einer kleinen Liebeserklärung an: „Mit Leonie kann es gar nicht langweilig werden, weil sie immer am Suchen ist, sich selbst immer wieder neu definiert und mich damit total ansteckt.“ (Anm.: Da ist sie wieder, die Ansteckung!)

Und weiter: „Erst gestern haben wir darüber gesprochen, wie wir mit dem Thema Nacktheit umgehen wollen, und eine der ersten Ideen, die Leonie vorgeschlagen hat, war, dass wir eine Nacktprobe machen. Daraufhin hat sie sich selbst ausgezogen. Was sie von ihren Spieler*innen und ihrem Team erwartet, durchlebt sie immer zuerst selbst. Das macht es mir unglaublich leicht, Vertrauen herzustellen.“

Leonie Böhm schaut Julia Riedler von der Seite an, und es wird klar, wie es sich anfühlt, wenn sich der Begriff „Nähe“ vollends aus seiner theoretisch-philosophischen Hülle herausschält und zu etwas Angreifbarem wird.

Leonie Böhm
Leonie Böhm wuchs in Heilbronn auf, studierte zunächst Bildende Kunst, später Schauspielregie. Ihre Zürcher „Medea*“ wurde zum Theatertreffen 2021 eingeladen.

Foto: Lukas Gansterer

Die Regisseurin fügt hinzu: „Es ist immer eine Mutprobe und ein Überwinden von eigenen Gewohnheiten, wenn man etwas Neues entwickelt. Das hat man nie in der Tasche. Eine Sache, die uns besonders miteinander verbindet, ist, dass wir uns sehr um Sprache bemühen – also keine Tabuzonen aufkommen lassen, sondern schöne wie auch schwierige Dinge wirklich benennen. Letztlich macht auch Else genau das: Sie plappert in Tabuzonen rein, bis sie nicht mehr in einer Ohnmachtsposition ist, sondern sich die Narration zurückgeholt hat. Auch wir als Theatermacher*innen müssen genau das tun, um uns die Texte zu erobern.“

Für Julia Riedler kommt noch der Wunsch dazu, sich maximal in die Figuren hineinzuschrauben, mit denen sie sich auseinandersetzt. „Um am Ende vielleicht etwas von sich zu erfahren oder etwas in sich zu überwinden, das einen bis zu diesem Zeitpunkt blockiert hat. Auch im Falle der Else gibt es da einiges zu tun.“

In noch sehr viel weiter entfernter Zukunft wird sich außerdem zeigen, was das nächste Mal passiert, wenn eine der beiden Künstlerinnen den Satz „Eines Tages machen wir das zusammen“ abfeuert. Sicher ist: Es wird aufregend, befreiend und bestimmt auch ansteckend werden. Im besten Sinne des Wortes.

Hier zu den Spielterminen von Fräulein Else im Volkstheater!