Gut Ding braucht Weile. Manchmal kann man Menschen, die man gar nicht kennt, sehr nah sein. Bei den Schreibenden und Spielenden liegt das in der Natur der Sache: Nicht jeder, der auf der Bühne steht, kennt alle, die unten stehen. So weit, so logisch.

Anzeige
Anzeige

Felix Mitterer und ich waren uns jahrelang nahe, und ich hatte nicht den blassesten Schimmer davon. Null. Nada. Zero.

Bis er mich vor ein paar Tagen zurückrief, nachdem ich höflich um ein Interview angefragt hatte. „Ich kenn dich eh“, sagte Felix Mitterer, „weil meine Frau hat den Brief von dir gerahmt und bei uns im Esszimmer an die Wand gehängt. Der ist auch bei all unseren Umzügen mitgewandert. Ich freu mich, dass wir uns endlich einmal treffen. Geht morgen? Da sind wir in Wien.“

Mehr als ein „Aha“ sagte ich zuerst nicht, und man hörte Mitterer durchs Telefon lächeln: „Ja, ja. Was so ein kleiner Text alles auslösen kann ...“

Brief an Felix

DER Brief also. Seit Februar 2015 hing der in Mitterers Esszimmer an der Wand. Das ist jetzt auch nicht nichts: Es sind immerhin fast 500 Wochen und über 3.500 Tage. Was war passiert?

Anzeige
Anzeige

Ende Jänner 2015 feierte Mitterers Stück „Der Boxer“ Premiere in der Josefstadt. Es ist die Geschichte des Sinto-Boxers Johann „Rukeli“ Trollmann, der 1933 deutscher Meister wird. Der Titel wird ihm aberkannt, er landet im KZ, muss dort gegen andere Häftlinge boxen: Wer verliert, stirbt. Rukeli selbst wird 1944 im KZ Wittenberge erschlagen.

Stephanie Mohr führte damals Regie, und Gregor Bloéb spielte den Boxer Rukeli, Raphael von Bargen einen der SS-Gegenspieler. Es war ein magischer Theaterabend, der aufzeigte, welche Macht Theater hat: Er rührte zu Tränen. Er ließ die Fäuste ballen vor Wut. Er zwang zum Nachdenken. Er schüttelte das Hirn durch und rückte gerade, was gut und was böse ist. Ein Triumph.

Gerahmt an der Wand

Am nächsten Tag stand dann in einer Kritik über Mitterers Werk: „Eine mittelmäßig spannende Geschichtsstunde.“

Ich hatte noch nie einen Leserbrief geschrieben. Damals hackte ich ein paar Zeilen in den Computer – nicht gegen die Kritik, sondern für das Ensemble und den Autor – und schickte sie an die Josefstadt.

Diese leitete den Text offenbar an Mitterer weiter, denn der schrieb mir zwei Tage später sehr nett zurück. Aus. Zumindest für mich. Dass es der Text gerahmt an seine Wand zu Hause geschafft hat – ich hatte keine Ahnung, und es berührt mich tatsächlich sehr, weil es auch zeigt, wie sehr dahingeschlunzte Kritiken Künstler verletzen können. Selbst berühmte. Ich bilde mir auf den Text von damals nichts ein – auch weil ich keine Ahnung mehr habe, was ich da geschrieben habe –, aber er wurde offenbar wichtig, weil ihn eine Person wichtig fand. Fein.

Felix Mitterer bekommt jetzt den Nestroy für sein Lebenswerk, weil er Texte verfasst hat, die Millionen Menschen wichtig finden. Weil er Texte schreibt und schrieb, die Millionen bewegten. Das ist eine ganz andere Nummer.

Felix Mitterer
Ehrenmitglied. Gregor Bloéb, Felix Mitterer, Hilde Dalik: 70er und Ehrenmitgliedschaft des Theaters in der Josefstadt.

Foto: Ullstein Bild / VIENNAREPORT

Sein Werk, seine Preise

Er schrieb fürs Theater (über 50 Theaterstücke). Lassen Sie uns ein paar aufzählen: „Sibirien“, „In der Löwengrube“, „Kein schöner Land“,„Besuchszeit“, „Stigma“ und natürlich „Der Boxer“. Er schrieb für Fernsehen und fürs Kino: große Filme, „Tatorte“,„Landkrimis“ und, und, und. Er sorgte mit der legendären „Piefke-Saga“ zuerst für Proteststürme und wurde dann später von seinem Heimatland Tirol so was wie heiliggesprochen.

Felix Mitterer hat mit seinem Werk etwas Seltenes geschafft: Er hat Quote gemacht. Nicht mit Überreizung, plumper Anbiederung, sondern mit seinem klaren und wachen Blick auf die Menschen und ihre Schwächen und Stärken. Und das durch alle Genres: im Kino, im Fernsehen und in den Theatern. Felix Mitterers Karriere ist ein Marathon, und Mitterer war (fast) immer ganz vorn dabei. „Weißt“, sagt er, „ich freue mich, dass immer wer etwas von mir geschrieben haben wollte. Ich sitze gerne im Gasthaus und beobachte die Menschen und höre zu, wie sie reden, und ich recherchiere viel. Und ich habe so vieles noch nicht geschrieben.“

Mich hat das Dorftheater meiner Kindheit geprägt, wo die Menschen auf der Bühne so gesprochen haben wie die vor der Bühne.

Felix Mitterer, Schriftsteller

Preise hat er für sein Werk schon viele bekommen. Die Romy, den Grimme-Preis, das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien, den Prix Italia und so weiter und fort. Jetzt, in ein paar Wochen, eben den Nestroy fürs Lebenswerk.

Freut er sich? „Ja. Schon. Ich freue mich sehr – aber es ist ziemlich spät. Ich habe ja nie für ein Theaterstück einen Nestroy bekommen. Jetzt bekomme ich ihn halt für alle, so denke ich mir das.“

Im Burgtheater ist er nie gespielt worden. Der Grund ist banal, wie es die Wiener Theaterszene manchmal ist: Claus Peymann wollte „Die Löwengrube“ für sein Theater haben, Mitterer hatte es aber schon dem Volkstheater versprochen. Das war’s. „Sibirien“ schaffte es immerhin ans Akademietheater, und das ist ja auch irgendwie die Burg.

Mitterer lächelt.

Felix Mitterer
Der Boxer. Felix Mitterer hat es geschrieben, Stephanie Mohr hat es mit Gregor Bloéb 2015 an der Josefstadt inszeniert – „Der Boxer“: großes Schauspielertheater.

Foto: Erich Reismann

Die Sache mit dem Volksdichter

Wir treffen Mitterer mit seiner Frau Agnes Beier-Mitterer im Café Raimund. Es liegt genau gegenüber vom Volkstheater, wo auch die Nestroy-Gala am 24.November stattfinden wird.

Hans Weigel war gern im Raimund. Jörg Mauthe auch und Friederike Mayröcker. Wir sitzen in einer Ecke, hinter uns bohrt ein Arbeiter Polster auf Sessel. Mitterer findet das witzig: „Bohrmaschinen sind so herrlich respektlos.“

Die Mitterers mussten für Termine nach Wien. Derzeit leben sie noch in der Steiermark, sind aber bereits am Umziehen nach Tirol. Dort wird Felix Mitterer oft als „Tiroler Volksautor und Heimatdichter“ bezeichnet, und Wikipedia hat das mit seiner Mitterer-Biografie auch einzementiert. Das Brenner-Archiv der Uni Innsbruck hingegen versucht bereits seit einiger Zeit, den Passus bei Wikipedia zu korrigieren.

„Volksautor ist schon was, weil es bedeutet, dass ich vom Volk aufgeführt werde. Ich habe ja nie für Intellektuelle geschrieben, sondern immer auch für kleine Volksbühnen am Land. Mich hat das Dorftheater meiner Kindheit geprägt, wo die Menschen auf der Bühne so gesprochen haben wie die Menschen im Publikum. Die Nazis haben leider den Begriff des Volkstheaters missbraucht. Aber ich sage: Das Volk, das sind wir alle, nicht nur die.“

Beim Schreiben muss man gerecht gegenüber allen sein – oder es zumindest versuchen.“

Felix Mitterer, Schriftsteller

Die Sache mit der Heimat

Er bestellt einen Espresso. Die Bohrmaschine bohrt in den dritten Polster.

Wir reden über den Begriff „Heimatdichter“. In seinem Theaterstück „1809 – Mein bestes Jahr“ hat Felix Mitterer aus Heimat „Heumaad“ gemacht: „Die Heumaad duftet eigentlich immer ...“ Ist es die Erfüllung im Duft der Erinnerung, ist es ein unerfüllbarer Sehnsuchtsort?

Felix Mitterer lächelt. „Tirol ist mir seelisch näher als jeder andere Ort, doch fürs Schreiben ist das immerwährende Fremdsein wichtig. Unser hochpoetischer Musikerfreund Roland Neuwirth singt in seiner Neuvertonung von Schuberts ‚Winterreise‘: ,Ois Fremder bin i kumman, fremd muaß i wieder furt.‘ Ich mag ja das Wort ‚daheim‘ viel lieber. Heimat wird gerade jetzt wieder so missbräuchlich verwendet. Aber auch diesen Begriff lasse ich mir von denen, die das tun, nicht wegnehmen. Ich war lange weg, aber ich habe eine sehr anhängliche Liebe zu Österreich – und begegne der Intoleranz und der Anfeindung sehr unerschrocken und gleichmütig.“

Felix Mitterer
In der Löwengrube. Der nächste Hit: Der jüdische Schauspieler Leo Reuß muss aus der Josefstadt flüchten und kehrt als Tiroler Schauspiel-Naturtalent inkognito zurück. Eine Glanzrolle für Florian Teichtmeister, 2018.

Foto: Moritz Schell

Seine Mutter und die Freiheit

Leicht hat es Felix Mitterer nicht gehabt. Er ist das 13. Kind seiner Mutter. Wird zur Adoption freigegeben.„Meine Mutter hat mich nicht weggegeben, weil sie mich nicht geliebt hat. Im Gegenteil: Sie war eine Liebesgöttin.“

Man scheut sich nachzuhaken und fragt lieber, was er damit gemeint hat, als er einmal sagte: „Bürgerkinder haben es schwerer.“

„Stimmt“, sagt Mitterer und lächelt. „Mir war nichts vorgegeben. Meine Eltern hatten nur einen Anspruch, nämlich dass ich mein Geld ehrlich verdienen soll. Ich war frei. Meine Mutter war stolz auf das, was ich geschrieben hab, und hat sogar einmal mit großer Freude in ‚Kein schöner Land‘ mitgespielt.“

Die Lyrik und die „Piefke-Saga“

Man merkt, dass Felix Mitterer nicht so gerne über sein Leben spricht. Warum hat er eigentlich nie Lyrik geschrieben? Jetzt lächelt er seine Frau Agnes Beier-Mitterer an: „Sie kann das besser!“

Agnes hat ihren Felix auch mit ihrer Liebe zu Griechenland angesteckt. Wir reden über den Jahrhundert-Lyriker Jannis Ritsos, dessen Gedichte von Mikis Theodorakis vertont wurden und Stadien füllten: „Ich kann Lyrik nicht schreiben. Bei uns ist Lyrik eine brotlose Kunst, in Griechenland begreifen die Menschen diese Texte als Musik, und sie lieben das Pathos. Die deutsche Sprache scheut das Pathos – vermutlich, weil die Nazis alles darin verpackt haben.“

Felix Mitterer wird in schnellen Vorspännen der Tagespresse gerne auf seinen Mega-Erfolg „Piefke-Saga“ reduziert.

Irgendwo soll noch eine nicht abgedrehte neue Staffel herumliegen, die sich mit der Pandemie und Ischgl beschäftigt. Tobias Moretti soll einen Tourismus-Visionär spielen und Gregor Bloéb die Hauptrolle. Spannend, denn jeder würde gerne wissen, wie es mit den Hauptfiguren von damals weitergeht. Angeblich liegt das Buch beim ORF. Warum nichts passiert? Mitterer sagt nichts. Lächelt und sagt: „Die ‚Piefke-Saga‘ war für mich ein großes Glück. Niemand kennt normalerweise Autoren von Drehbüchern oder Schriftsteller. Mich kannte man dann schon.“

Felix Mitterer
Jägerstätter. Einmal mehr brilliert Gregor Bloéb in einem Mitterer-Stück, dieses Mal als Jägerstätter. Wieder inszeniert Stephanie Mohr, und Gerti Drassl rührt zu Tränen, 2013.

Foto: Moritz Schell

Das Schreiben über das Jetzt

Beim Schreiben, erzählt uns seine Frau, stecke Mitterer viel Zeit in Recherche, und an den Wänden seines Arbeitszimmers würden lauter Zettel kleben. Die echten Geschichten interessieren ihn, sagt sie.

„Das Problem ist, mit der Wirklichkeit umzugehen. Man muss Zeit vergehen lassen, denn man steckt ja selber drinnen und hat seine Meinungen, Abneigungen. Aber beim Schreiben muss man gerecht gegenüber allen sein – oder es zumindest versuchen.“ Und das ist ihm immer gelungen. Felix Mitterer schaut uns an und lächelt. Wir gratulieren zum Nestroy!

NESTROY- Gala 2024: TV-Übertragung am 24. November ab 21.05 Uhr auf ORF III