Camino Real: Irgendwo im Nirgendwo
Ein Stück wie ein Fiebertraum. Und dennoch steckt in „Camino Real“ eine große Portion Gesellschaftskritik. Anna-Sophie Mahler inszeniert das Stück als musikalische Reise durch eine wüste, vorhöllenartige Gegend. Als Wegweiser und Reiseleiter fungieren Calexico.
Wo soll das alles nur hinführen? Es kann passieren, dass man sich diese Frage stellt, wenn man Tennessee Williams’ zwischen Realität und Fiebertraum oszillierendes Stück „Camino Real“ zum ersten Mal liest. Die (sehr vereinfachte) Antwort lautet: Nirgendwohin. Die von Williams in seinem 1953 uraufgeführten Stück beschriebene Straße ist nämlich eine Sackgasse, die sich nach und nach als eine Art Vorhölle entpuppt. Dead End – im wahrsten Sinne des Wortes. Würde eine Wiener Bim dort stehenbleiben, hieße es:
„Endstation, bitte alle aussteigen!“
Dass der Ausstieg ein endgültiger ist, beschäftigt vor allem den Neuankömmling Kilroy, einen jungen Boxer mit goldenem Herzen „groß wie ein Babykopf “. Verzweifelt sucht er nach ehrlicher, menschlicher Verbindung und findet sich stattdessen in einem strengen Überwachungsregime wieder, in dem einem auch noch der letzte Penny aus der Tasche gezogen wird. Die Welt außerhalb des Camino Real wird als „Terra incognita“ beschrieben – als staubige, unendliche Wüstengegend. Jeder Fluchtversuch versandet – scheitert an Geld, Papieren oder Todesangst.
Underground trifft Unterwelt
Im Volkstheater bringt Anna-Sophie Mahler das selten gespielte Stück, das lange als unaufführbar galt, auf die Bühne. Gemeinsam mit der zwischen Mariachi, Tex-Mex, Rock, Jazz und Folk angesiedelten Band Calexico entwickelt sie einen Abend zwischen Rockkonzert und Sprechtheater – zwischen Underground und Unterwelt. Der Kontakt zu der bekannten US-amerikanischen Band entstand, als sie vor etwa 25 Jahren als Geigerin mit Calexico tourte.„Eigentlich existiert dieser Traum, eine Calexico-Oper auf die Bühne zu bringen, seit damals. Dazwischen ist er jedoch in Vergessenheit geraten, denn welches Theater hat schon den Mut, eine Rockband aus Amerika ans Haus zu holen?“
Musik ist für mich ein Strukturgeber. Ohne Musik kann ich gar nicht denken.
Anna-Sophie Mahler, Regisseurin
Die Antwort wissen wir bereits: das Wiener Volkstheater. Anna-Sophie Mahler, die zum ersten Mal in Wien inszeniert, lacht ihr offenes Lachen, das vor allem eines transportiert: unbändige Freude daran, dass diese Zusammenarbeit nun endlich Wirklichkeit wird.
Bei der Auswahl des Stücks sei unter anderem ausschlaggebend gewesen, dass sie wusste, dass Joey Burns und John Convertino von Calexico eine große Nähe zu Tennessee Williams haben, erklärt die Regisseurin. „Beim Lesen des Stücks, das irgendwo zwischen Mexiko und Amerika spielt, dachten wir sofort, das könnte passen.“
Zwischen Realität und Traum
Joey Burns bringt seine Begeisterung für Tennessee Williams folgendermaßen auf den Punkt: „Ich mag es sehr, dass er unter die Oberfläche unserer Gesellschaft blickt und dabei emotionale Tiefen auf schöne und nachdenkliche Weise beleuchtet.“ An „Camino Real“ begeistert ihn vor allem, dass der Grat zwischen Traum und Realität sehr schmal ist. „Gleichzeitig legt es die Geheimnisse und manchmal auch schmerzhaften Wahrheiten offen, die Menschen in ihren Herzen mit sich herumtragen“, so der Musiker, der sich schon sehr darauf freut, die letzten drei Probenwochen mit dem Ensemble und dem Regieteam zu verbringen.
Für Tennessee Williams, eigentlich bekannt für seine realistischen Theaterstücke, war „Camino Real“ so etwas wie ein Befreiungsschlag. Im Vorwort zum Stück drückt er es so aus: „To me the appeal of this work is its unusual degree of freedom. (...) This sort of freedom is not chaos nor anarchy. On the contrary, it is the result of painstaking design.“
John Convertino versteht, was er damit meint: „Calexico gibt es nun schon eine ganze Weile. Wir haben ein gewisses Fundament aufgebaut, also gehen wir immer wieder Risiken ein, um den Ball am Rollen zu halten.“ Auch Anna-Sophie Mahler kann man eine gewisse Risikofreudigkeit nicht absprechen.
Meist arbeitet sie spartenübergreifend – wie Kilroy in „Camino Real“ träumt sie von Verbindung statt Trennung. So brachte sie unter anderem Bertolt Brechts und Kurt Weills Ballett mit Gesang „Die sieben Todsünden“ mit der Musik von Peaches zusammen – die Musikerin stand dabei selbst auf der Bühne. „Ich wünsche mir, dass die Zuschauer*innen etwas erleben, das sie noch nicht kennen. Viel spannender, als immer wieder das Gleiche zu sehen, ist es doch, wo reinzugehen und gefühlt an einem völlig anderen Ort wieder herauszukommen“, sagt Mahler.
Unbekanntes Terrain
Bei „Camino Real“ begibt sich die Regisseurin abermals auf ein Terrain, das man in Anlehnung auf Williams wohl als Terra incognita bezeichnen könnte. Als Wegweiser fungiert für sie die Musik, erklärt die Regisseurin. „Musik ist für mich ein Strukturgeber. Ohne Musik kann ich gar nicht denken. Außerdem habe ich mit meiner Bühnenbildnerin Katrin Connan und meiner Kostümbildnerin Victoria Behr ein tolles Team.“
Obwohl es einer Traumlogik folgt, ist „Camino Real“ auch ein gesellschafts-kritisches Stück, in dem eine große Portion Kapitalismuskritik steckt. „Darüber hinaus geht es für mich um das Gefühl einer Orientierungslosigkeit, wie Kilroy sie erlebt. Begriffe, an die man lange geglaubt hat, bedeuten plötzlich nichts mehr oder etwas anderes. Und man fragt sich: ‚Träume ich? Was passiert hier gerade?‘ Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Menschen nach der Wahl hier in Österreich dieses Gefühl gut kennen.“
Bei der Suche nach Stoffen ist es der Regisseurin wichtig, sich immer wieder mit der Aufgabe der Kunst in unserer heutigen Zeit zu befassen. „Mit unserer Arbeit haben wir die Möglichkeit, Visionen zu entwickeln und Dinge zu erschaffen, die so vielleicht noch nicht gedacht wurden. Ich habe das Gefühl, dass wir unser Wissen und Können der Frage zur Verfügung stellen sollten, wie wir uns als Menschen verwandeln können. Und uns wieder verwandt machen können – untereinander und mit der mehr als menschlichen Welt. In einer Zeit, in der es meist um Trennung geht, wie Kultur-Natur, Mensch-Tier, Objekt- Subjekt, und in der es gilt, viele Dinge zu hinterfragen.“
Die Frage bleibt dieselbe wie am Anfang: Wo soll das alles nur hinführen? In „Camino Real“ wird diese wohl nicht zur Gänze beantwortet, aber vielleicht eröffnen sich ja unterschiedliche Wege, die einen bei der Suche danach auf neue Spuren bringen. Um nicht in einer Sackgasse zu landen, lässt man sich am besten einfach von der Musik leiten.