Aufzeichnungen vom Kriegsrand: Eine Reportage von Robert Prosser
Der Tiroler Autor Robert Prosser war zehn Tage im Süden der Ukraine unterwegs – nahe der Front. Eine Reportage über Bombenangriffe und eine Kulturszene, die sich nicht unterkriegen lässt.
„Willkommen im Casino“, sagt Sviatoslav Pomerantsev, genannt Slava. Eine gängige Bemerkung, schlagen die Sirenen Alarm und gibt das Smartphone ein markantes Heulen von sich. „Proceed to the nearest shelter“, verkündet die metallische Stimme der Warn-App. „Your overconfidence is your weakness.“ Der Ballsaal des Kulturzentrums Union im Zentrum Odessas ist Sonntagabend gut besucht. Auf der Bühne beschließt die Dichterin Tetiana Mylymko mit Gitarrist und Drummer das Meridian-Literaturfestival, das Slava gemeinsam mit Evgenija Lopata organisiert. In Telegram-Gruppen müsste bald gepostet werden, was von den Russen abgefeuert wurde. Eine Iskander zielt etwa nicht auf die Innenstadt, solche kostspieligen Raketen haben fast immer militärisch Bedeutsameres wie ein Munitionsdepot im Visier.
Nach dem ersten Anschwellen der Sirenen aber ist das Wummern der Luftabwehr zu hören, nicht weit entfernt. Ein Fluchen geht durch die Menge. Etwas ist über der Stadt, der Schutzmechanismus reagierte diesmal zu langsam. Die zweite Detonation beweist, dass es ernst ist, man eilt in den Keller. Vom Publikum umringt, improvisiert Mylymko im Bunker mit ihren Musikern. Online kursieren Gerüchte, es ist von Shahed-Drohnen die Rede. Unruhe verbreitet sich; Drohnen, die sind schwerer runterzuholen, besonders bei Nacht.
Evgenija hat erzählt, wie sie in Kyiv einmal durch das Fenster das eigentümliche Surren hörte. Wie dystopisch das sein muss: Vor der Wohnung zieht ein GPS-gesteuerter Flugkörper vorbei, um jemanden zu töten. Angriffspause, besagt das nächste Gerücht. Wir rennen zum Hotel, dort im Bunker gibt es mehr Platz. Auf den Dächern verbergen sich Verteidigungsstellungen; riesige, grelle Funken steigen hoch und schwirren über der Allee. Jemand hat aus einem oberen Stockwerk des Hotels gefilmt, das Video zeigt, dass das, was von unten wie wirrer Funkenflug aussieht, in Wahrheit Salven sind, auf die Drohnen gerichtet. „Willkommen in der Ukraine“, wiederholt Slava, Tag um Tag dreht sich dieses abgefuckte Roulette.
Die erste Literaturveranstaltung seit der Invasion
Am nächsten Morgen fahren wir in seinem Minibus durch eine weite, abgeerntete Landschaft nach Mykolajiw. Auftakt einer Tour von zwei Autoren und einer Autorin des Meridian Czernowitz Verlags, den Slava mit Evgenija leitet: Andriy Lyubka, Essayist und Romanautor; Iryna Tsylik, Dichterin und Regisseurin; und Serhiy Zhadan, der international mitunter populärste ukrainische Autor.
Im Stadtkino beginnt spätnachmittags die erste Literaturveranstaltung seit der Invasion. Andriy liest Kolumnen aus der Zeit vor 2022, über seine Erfahrungen im Ausland, die Schilderungen reißen die mehr als vierhundert Menschen zum Lachen hin. Er berichtet von der Arbeit als Freiwilliger, der Grundlage eines bald erscheinenden Journals. Er hat ein Netzwerk aufgebaut, um für die Armee gebrauchte Jeeps und Pick-ups zu besorgen, meist in Großbritannien, wegen des Lenkrads auf der rechten Seite sind die Wagen dort günstiger. Zu Haus in Uschhorod fronttauglich gemacht, überstellt Andriy sie alle paar Wochen an Einheiten im Donbas oder hier im Süden. Als Nächstes spricht Iryna über ihre Filmarbeiten, etwa die Dokumentation „The Earth Is Blue as an Orange“: eine Mutter mit vier Kindern, die im Donbas, inmitten der Kämpfe, durch ihre Leidenschaft für Film und Kamera eine Gegenwelt zum Grauen zu erschaffen versuchen.
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Alarm heult auf, und man wechselt in den Untergrund, das Publikum wirft lange Schatten durch die von Baustrahlern erhellte Dunkelheit des Luftschutzbunkers. Iryna trägt Gedichte vor, die um ihre Familie kreisen, die elendige Unsicherheit, als ihr Mann, der Schriftsteller und Soldat Artem Chekh, nahe Bachmut als verschollen galt. Es gibt Entwarnung, zurück im Saal hält Zhadan einen Packen Zettel in der Hand. Nach jedem Gedicht bedankt er sich, und Applaus brandet auf, er blättert um. In sympathischer Weise abgeklärt, misst er der Aufmerksamkeit, die er erregt, nicht sonderlich Bedeutung zu, auch tagsüber nicht, wenn man ihn beim Essen oder in den Straßen um Fotos und Autogramme bittet.
Im Schützengraben entstandene Gedichte
Tags darauf erwartet uns der riskanteste Halt: Cherson befindet sich in Reichweite von Grad-Raketen und Panzern, mancherorts ist die Front nur einen Kilometer entfernt. Die Veranstaltung findet im Keller des Theaters statt. Nichts darf auf Social Media gepostet werden, keinerlei Infos zu Ort und Zeit, um kein gezieltes Bombardement herauszufordern. Heute stößt Yaryna Chornohuz dazu, eine junge Frau in Uniform. Sie ist Dichterin und Soldatin, nahe Cherson stationiert, zuvor war sie in Mariupol im Einsatz. Der Raum füllt sich mit Soldaten, Teenagern, Rentnern. Journalisten tappen in Schutzmontur die Treppen herab, Korrespondenten aus Japan und Kalifornien.
Ein stilles, konzentriertes Publikum, während Chornohuz ihre im Schützengraben entstandenen Gedichte vorträgt, beginnen manche zu weinen. Nach dem Ende der Veranstaltung kauft ein junger Mann einen Stapel Bücher und lässt sich jedes signieren. Seine Bibliothek ist verbrannt, sagt er, jetzt will er sich eine neue aufbauen. Als die Russen Cherson einnahmen, schloss er sich den Partisanen an, führte Sabotageakte gegen die Besatzer durch. Für Fotos mit ihm posieren wir draußen vor einem Sockel. Bis vor einem Jahr stand darauf die Statue Potemkins, Liebhaber Katharina der Großen und Gründer der Stadt. Die Russen haben sie mitgenommen, wie auch Potemkins in der hiesigen Kathedrale bestattete Gebeine.
Sie plünderten die Friedhöfe und das Museum, stahlen Küchen, Waschmaschinen, Menschen: Der Theaterdirektor, der sich zu uns gesellt, war entführt worden, aber wieder freigekommen. Vom Fluss ist Geschützfeuer zu hören, Slava treibt zur Eile an. Außerhalb Chersons durchdringt ein hohes Singen das Auto: Die Ketten der Panzer, die hier in den letzten Monaten entlanggefahren sind, haben sich in die Straße gefressen, feine Rillen im Asphalt, die ein Surren bewirken. Wie verräterisch die Geräusche sind.
Gut sieben Stunden dauert die Fahrt bis nach Saporischschja. Hier setzt das Sirenenheulen immer wieder ein; es ist nicht weit bis Enerhodar und dem AKW, den russischen Stellungen. Wie in Mykolajiw zählt das Publikum mehrere hundert, darunter erschreckend junge Soldaten. Einer hat Freigang vom Einsatz in Awdijiwka. Wir kommen ins Gespräch, er schnalzt mit der Zunge, zuckt die Schultern, will abgeklärt wirken.
Er fragt, was ich von der Ukraine halte. Es sei beeindruckend, dass man nicht aufgibt, sage ich, etwas Besseres fällt mir nicht ein. „What else is there to do“, erwidert er, diesmal liefert die gespielte Gelassenheit die richtige Antwort. Lange geht mir die Frage im Kopf um, was aus ihm wird, sollte er Awdijiwka überleben; wie wird man mit der extremen Erfahrung des Artilleriefeuers und des Schützengrabens fertig? Seine Art, denke ich mir später, war vielleicht gar nicht unbeholfen, sondern passte nur nicht hierher in eine Stadt, in der trotz allem eine gewisse Normalität herrscht, ein leidlich reger Alltag bis zur Ausgangssperre um 22 Uhr.