Was für jeden guten Westernstreifen gilt, trifft auch auf Kay Voges’ letzte Spielzeit als Intendant des Wiener Volkstheaters zu: Zum Schluss, beim großen Showdown, wird abgerechnet – werden alle Karten offen auf den Tisch gelegt. Im Falle des Volkstheaters bedeutet das, noch einmal alles zu zeigen, alles zu geben und alles zu riskieren – kurz: alles aufs Spiel zu setzen. Für das wohl spielfreudigste Ensemble der Stadt, als das die Volkstheatertruppe in den vergan­ge­nen Jahren immer wieder bezeichnet wurde, dürfte das vermutlich keine allzu große Herausforderung sein.

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Der Wunsch, hoch zu pokern, kam jedoch nicht erst jetzt, in der Konzeption der Abschiedssaison, auf. „Der Plan ist: Wir wollen durch unseren Mut und unsere Waghalsigkeit Schönheit produzieren“, erzählte uns der damals frischgebackene Volkstheater-Intendant schon im Jahr 2020, als wir ihn zum Interview auf dem Fußballplatz der Wiener Viktoria trafen. Warum ausgerechnet dort? Na, weil der Voges nach Wien gekommen ist, um zu siegen, dachten wir uns.

Das stimmte jedoch nur zum Teil, denn Kay Voges ist vor allem gekommen, um zu ­suchen. Wobei das eine das andere keinesfalls ausschließt. Heute formuliert er es folgendermaßen: „Wir wollen Theater für die Stadt und unsere Zuschauer*innen machen. Gleichzeitig ist es unser Bestre­ben, immer wieder neu herauszufinden, was es bedeutet, Theater für die Gegenwart zu machen. Diese Form der Such­bewegung hat uns von Anfang an begleitet. Das ­bedeutet auch: Nicht vom hohen Ross zu predigen, wie die hehre Theaterkunst zu sein hat, sondern eine Gruppe zu sein, die sich ernsthaft darum bemüht, herauszufinden, was für ein Theater die Stadt und die Zeit ge­rade brauchen.“ Hohe Rösser werden im ­Übrigen auch in der Eröffnungsinszenierung von Kay Voges eine Rolle spielen. Doch dazu gleich mehr.

Christoph Schüchner, Günther Wiederschwinger & Fabian Reichenbach
Christoph Schüchner, Günther Wiederschwinger & Fabian Reichenbach

Foto: Marcel Urlaub

Auf der Suche

Die eben angesprochene Suchbewegung möchte er jedenfalls auch in dieser Saison kompromisslos fortsetzen, so Voges: „In den vergangenen Jahren wurde viel darüber debattiert, ob das, was wir da tun, noch das ‚richtige‘ Volkstheater sei. Teilweise dachte ich mir, dass wir uns diesbezüglich rechtfertigen müssen, das denke ich jetzt nicht mehr. Statt Rechtfertigungsversuche anzustellen werden wir voller Liebe und Selbstvertrauen in diesen Showdown starten.“

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Gegenwartstheater für das coolste Publikum der Stadt zu machen – so lautet demnach auch in der Saison 2024/25 das Credo des Volkstheaters. „Zu uns kommen Menschen, die das Theater als lebendige Kunstform betrachten, die neugierig sind und Neues erfahren möchten. Unser Mut und die Starrköpfigkeit, mit der wir unseren Weg weitergegangen sind, haben uns lesbar gemacht und ein Fanpublikum entstehen lassen, das sich stetig vergrößert hat“, ergänzt Kay Voges, bevor wir uns gleich in wildem Galopp von einer Premiere zur nächsten bewegen.

So viel sei bereits verraten: Das Theater am Arthur-Schnitzler-Platz hat in der kommenden Spielzeit so einige Eisen im Feuer.

Lavinia Nowak & Frank Genser
Lavinia Nowak & Frank Genser

Foto: Marcel Urlaub

Start mit „Bullet Time“

Der Startschuss fällt am 7. September – mit der Uraufführung des Stücks „Bullet Time“. Kay Voges inszeniert das von Alexander Kerlin geschriebene Stück über den 1904 verstorbenen Fotografen Eadweard Muybridge. „Die Fotografie begleitet mich in meiner Theaterarbeit schon seit 2017. Damals habe ich in Dortmund das Stück ‚hell / ein Augenblick‘ auf die Bühne gebracht, vor zwei Jahren habe ich mich in meiner ‚Faust‘-Inszenierung erneut dem Festhalten des Augenblicks gewidmet“, so Voges. Mit der scheinbar unlösbaren Aufgabe konfrontiert, ein galoppierendes Pferd ohne Bewegungsunschärfe zu fotografieren, setzte Muybridge einst neue Maßstäbe.

Unser Mut und unsere Starrköpfigkeit haben uns lesbar gemacht.

Kay Voges
Friederike Tiefenbacher und Anke Zillich
Friederike Tiefenbacher und Anke Zillich

Foto: Marcel Urlaub

„Es gelang ihm, jenen Moment festzuhalten, in dem das galoppierende Pferd keinen Huf mehr auf dem Boden hat. Damit konnte Muybridge nicht nur beweisen, dass Pferde für den Bruchteil einer Sekunde fliegen können, sondern erfand auch – mehr oder weniger aus Zufall – das Kino. Ihm ist also gelungen, was sich Faust so sehr gewünscht hat – den Augenblick festzuhalten“, erklärt der Regisseur und künstlerische Leiter des Volkstheaters. Das sei jedoch nicht das Einzige gewesen, das ihn an seiner Geschichte interessiert habe, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu. Am 17. Oktober 1874 erschoss Muybridge einen Nebenbuhler. Sogleich drängte sich eine Frage auf: Gibt es eine Verbindung zwischen den beiden Momenten des Abdrückens? „Ich fand den Gedanken spannend, dass das Kino aus dem Geist eines Mörders geboren wurde“, bringt es der Intendant auf den Punkt.

Anna Rieser & Samouil Stoyanov
Anna Rieser & Samouil Stoyanov

Foto: Marcel Urlaub

Verschnaufpause? Fehlanzeige! Nur wenige Galoppsprünge liegen zwischen der ersten und der zweiten Premiere. Der deutsche Regisseur Stephan Kimmig bringt Virginie Despentes’ Roman „Liebes Arschloch“ zur österreichischen Erstaufführung – ein moderner Briefroman und eine Reflexion auf die Zeit der Pandemie. Aber nicht nur, wie Voges betont. „Es geht um Geschlechterkämpfe und die Frage, wie wir miteinander umgehen wollen. Auf humorvolle, schamlose und gleichzeitig auch versöhnliche Weise schreibt sie über verhärtete Diskurse und die großen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit.“ Der Intendant freut sich, mit Stephan Kimmig einen seiner Regiehelden ans Haus holen zu können. „Ich habe seine ersten Inszenierungen gesehen, da war ich noch Regieassistent.“

Neue Formen und alte Bekannte

Die rastlose Suche nach gegenwärtigen theatralen Ausdrucksformen bedeute je­doch nicht, dass leisere, langsame und subtilere Stücke keinen Platz im Spielplan hätten. „Seit Jahren träume ich davon, ein Stück von Jon Fosse zu inszenieren“, so Kay Voges, der mit „Der Name“ einen Theatertext des frischgebackenen Literaturnobelpreisträgers und Meisters des Unsagbaren auf die große Bühne bringt. „Er ist für mich ein Zauberer des Minimalismus, der feinen Nuancen und der seelischen Abgründe. Ich erhoffe mir, dass es ein Abend voll stiller Explosionen wird“, erläutert der Intendant, der nach dem großen Showdown in Wien ans Schauspiel Köln wechselt.

Evi Kehrstephan & Bettina Lieder
Evi Kehrstephan & Bettina Lieder

Foto: Marcel Urlaub

Voges verlässt seine gegenwärtige Wahlheimat jedoch nicht, ohne seine große Musikliebe mit einem echten Coup zu unterstreichen. Über Paul Wallfisch, den musikalischen Leiter des Volkstheaters, gelang es, die US-amerikanische Band Calexico für die Inszenierung von Tennessee Williams’ selten gespieltem Stück „Camino Real“ zu gewinnen. Das Stück spielt an der Grenze zwischen den USA und Mexiko, also genau dort, wo die Band herkommt. Es sei also das „richtige Stück für die Band und die richtige Band für das Stück“, so Voges. Ausgehend vom gleichnamigen Containerschiff, das 2021 im Suezkanal steckte, wird sich Helgard Haug („Rimini Protokoll“) in „Ever Given. Eine Kipp-Punkt-Revue“, einer Koproduktion mit dem HAU Hebbel am Ufer und dem Theater Magdeburg, mit Stillstand und Momenten des Kollapses beschäftigen.

Stillstand kann man Claudia Bauer nicht wirklich nachsagen. Mit El­friede Jelineks „Krankheit oder Moderne Frauen“ setzt sie, nach Ernst Jandl und Ingeborg Bachmann, ihre Reise durch die österreichische Gegenwartsliteratur fort. „Wir haben uns dazu entschieden, nicht in den Wettbewerb um Jelinek-Uraufführungen einzusteigen, sondern dieses Stück von 1984 nach seinem Wert für die Gegenwart zu untersuchen“, erklärt Voges, der sich ziemlich sicher ist, dass es sich hier um eine Begegnung der Kategorie „Gesucht und gefunden“ handeln wird. In Wien würde man auch sagen: a aufglegte Gschicht.

Irem Gökçen und Hasti Molavian
Irem Gökçen und Hasti Molavian

Foto: Marcel Urlaub

Stichwort Dreamteam: Die Schauspielerin Julia Riedler und die Regisseurin Leonie Böhm werden nach meh­reren gemeinsamen Arbeiten (u. a. „Die Räuberinnen“) „Fräulein Else“ im ­Theater am Arthur-Schnitzler-Platz auf die Bühne bringen – und zwar pünktlich zum 100. Geburtstag der Novelle. ­„Leonie Böhm beherrscht es meisterlich, auf lustvolle Weise mit diesen alten Stoffen umzugehen. Seit fünf Jahren bemühe ich mich, sie an unser Haus zu kriegen, dass es nun klappt, freut mich sehr“, hält Kay Voges fest und kommt sogleich auf eine weitere Regisseurin zu sprechen, die derzeit von allen deutschsprachigen Häusern umworben wird: Luise Voigt.
Im Volkstheater wird Voigt, die bei Heiner Goebbels in Gießen studiert hat, in die Welt der österreichischen Schriftstellerin Friederike Mayröcker eintauchen.

Uwe Rohbeck und Stefan Suske
Uwe Rohbeck und Stefan Suske

Foto: Marcel Urlaub

In der letzten Premiere auf der großen Bühne setzt sich der Opernregisseur Paul-Georg Dittrich, der zum dritten Mal im Volkstheater inszeniert, mit der „Fledermaus“ auseinander. „Villa Orlofsky“ entsteht in Kooperation mit dem Johann-Strauss-Festjahr und wird den zweiten Akt der Operette auf vollkommen neue Art erleb- und erfahrbar machen. „Ich glaube, dass diese lustvolle und widerborstige Auseinandersetzung mit dem Stoff der walzerseligen Stadt guttun wird“, sagt Kay Voges. Mit dieser Premiere ist der letzte Schuss jedoch noch nicht gefallen, denn wer möchte, kann sich im wohl größten Theater-Showdown, den die Stadt je gesehen hat, 34 Dernièren in fünf Wochen reinziehen.

In der Dunkelkammer eröffnet die Regisseurin Laura N. Junghanns mit Sarah Kanes „Phaidras Liebe“ die Spielzeit, danach bringt Ed. Hauswirth den in Vergessenheit geratenen Anti-Heimatroman „Die Wolfshaut“ auf die Bühne. Calle Fuhr wird mit einer weiteren großen Recherche in Kooperation mit DOSSIER erneut für Wirbel sorgen.

Fabian Reichenbach und Uwe Schmieder
Fabian Reichenbach und Uwe Schmieder

Foto: Marcel Urlaub

Das Volkstheater in den Bezirken startet mit einer Koproduktion mit den Wiener Festwochen in die neue ­Saison. Tim Etchells, Mitbegründer der renommierten englischen Theatertruppe Forced Entertainment, widmet sich in einem „großen, wilden Schauspielerfest“, so Voges, einer der Grundformen des Theaters zwei Menschen treffen einander in einem Restaurant. Mit „Schwarze Schwäne“ wird es eine österreichische Erstaufführung geben und mit Ionescos „Die kahle Sängerin“ einen Klassiker des absurden Theaters. Außerdem kooperiert das Volkstheater in den Bezirken erneut mit dem Bronski & Grünberg Theater. Die noch junge Tradition, ein Kinderstück ins Programm mit aufzunehmen, wird mit „Pettersson und Findus“ fortgesetzt.

Claudia Sabitzer Andreas Beck
Claudia Sabitzer und Andreas Beck

Foto: Marcel Urlaub

Schwebephase

Nach seinem Highlight der gerade zu Ende gehenden Spielzeit gefragt, gelingt es selbst dem Sheriff des Wiener Volkstheaters nicht, wie aus der Pistole geschossen zu antworten. Er überlegt kurz. „Ich glaube, dass wir mit ‚Geheimplan gegen Deutschland‘ ein Stück Theatergeschichte geschrieben haben. Durch die umfassende Verbreitung des Streams ist es uns gelungen, mehr als eine Million Menschen zu erreichen – das ist schon ein kleines Theaterwunder.“

Politisch wird es auch in der kommen­den Saison wieder, denn kurz vor der österreichischen Nationalratswahl lädt das Volkstheater gleich dreimal zur ultimativen Feier der Demokratie – inklusive Party am Wahlsonntag. „Es ist meine tiefe Überzeugung, dass wir als Theater Teil des politischen Lebens sind und für den Humanismus, die Demokratie und das Miteinander unsere Fahnen hissen müssen. In einer Zeit, in der viele dieser Werte infrage gestellt werden, wollen wir uns nicht nachsagen lassen, wir wären in unserer Kunstbubble gesessen und hätten nur zugeschaut“, sagt Voges, und wir verabschieden uns.

Nick Romeo Reimann
Nick Romeo Reimann

Foto: Marcel Urlaub

Jene Phase, in der das galoppie­rende Pferd mit keinem seiner Hufe den Boden berührt, nennt man im Übrigen Schwebephase. Ein Zustand, den man in gewisser Weise auch aus dem Theater kennt, wenn Abende, wie von einer seltsamen Magie gesteuert, plötzlich abheben. In diesem Sinne: Wir sind bereit für den großen Theater-Showdown. Alle Karten auf den Tisch.

Hier kommen Sie zur neuen Spielzeit des Volkstheaters!