Wenn Lotte de Beer, die neue Volksopern-­Direktorin spricht, dann spricht ihr ganzer ­Körper. Ihre Arme machen weite, umarmende Bewegungen, ihre ­Augen leuchten, wenn sie von ihren Theater-Ideen ­erzählt. Die Niederländerin ist, das trifft es ganz sicher, mitreißend. Dass ihr einzelne ­Wiener Kritiker keine Chance geben, gehört zum Spiel der Stadt. Lesen Sie hier ihre Antrittsrede. Die zeigt: Lotte de Beer ist gekommen, um zu bewegen.

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Schütteln, aufwecken, schockieren

„Ich hatte während des Lock­downs endlich einmal Zeit, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist im Leben und in der Kunst. In welche Richtung geht es da wie dort? Ich hatte das Gefühl, dass die Welt, die ich kannte und in der ich gelernt hatte, meine Arbeit zu machen, plötzlich sehr weit weg ist. In Zeiten, in denen es sehr friedlich und komfortabel ist, da hat die Kunst die Aufgabe, uns zu schütteln, uns aufzuwecken, zu dekonstruieren, zu schockieren.

Entfliehen, umarmen, lachen, weinen

Aber in diesen dunklen und beängstigenden Zeiten hat die Kunst vielleicht einen ganz anderen Sinn. Das Theater könnte ein Ort sein, wo man hingeht, um der Welt zu entfliehen, um umarmt zu werden, um Poesie und Mitgefühl zu erleben, um zu lachen, um zu weinen über die ­Absurdität des heutigen Lebens. Ein Ort, an dem man gleichzeitig berührt und auch unterhalten werden kann. Entertainment ist ein schwieriges Pflaster. In der hohen Kunst wird gerne darauf hinuntergeschaut, und das ist schade. Denn wenn man etwas in hoch und niedrig, in vielschichtig oder flach kategorisiert, dann dividieren wir nicht nur die Kunstformen auseinander, sondern verlieren auch einen großen Teil des jungen Publikums.

Darum glaube ich, dass es an der Zeit ist, Verantwortung für die Kunst zu übernehmen. Ich liebe meinen  Job als freie Regisseurin, er ist der beste der Welt, aber ich glaube, dass für mich jetzt die Zeit gekommen ist, etwas ­aufzubauen. Doch bevor man in einem Opernhaus überhaupt beginnt zu bauen, muss man an die Musik denken, und deshalb wird der erste Schritt, den ich setze, jener sein, einen starken Musikdirektor zu suchen, der alle Musikformen, die an der Volksoper stattfinden, bespielen kann. Eine Person, die genau wie ich ein Teamplayer ist und bereit, all die Energie und Inspiration zu investieren, die das Haus braucht.

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Breit aufgestelltes Publikum für Volksoper finden

In meiner Arbeit hat mich immer die Frage bewegt, wie ich meine eigene Generation und die Generation nach mir bewegen kann, in die Oper zu gehen. Der Ausgangspunkt war immer, ein so breit wie möglich aufgestelltes Publikum zu finden, weil ich glaube, dass Theater ein Dialog ist, und je span­nender der Gesprächspartner, desto eher interessiert man sich dafür.

Dazu kommt die Frage: Wie erschließt man ein neues Publikum, ohne das alte zu vertreiben? Der größte Fehler wäre, wenn ich mit einer großen dramatischen Geste in die Volksoper gehen und dort die Menschen wegspielen würde. Denn wenn dort kein Publikum mehr ist, dann wird das, was wir machen, ein einsamer Monolog. Ich werde also alles dafür tun, eine Brücke zwischen Innovation und Tradition zu bauen. Das ist immer mein Stil gewesen. Statt zu schockieren, will ich künstlerische Verzauberung bringen. 

Operette als wichtiges Genre in unsicheren Zeiten

Was mich am meisten an der Volksoper fasziniert hat, ist die Ope­rette. Als ich mein Studium beendet hatte, wollte ich als Endprojekt eine Operette inszenieren. Aber meine Lehrer haben gesagt, Operette ist keine Kunst – ich hab es trotzdem ­gemacht, und es ist ein Erfolg geworden. Und auch danach habe ich immer versucht, Intendanten dazu zu bewegen, mir Operetten zu geben. Ich glaube, Operette ist ein wirklich wichtiges Genre für diese unsicheren Zeiten. Es hat etwas Eskapistisches mit all den schönen Melodien und romantischen Geschichten, aber gleichzeitig will Operette die Gesellschaft – auch mit Humor – verändern. Ich will Partnerschaften mit Schriftstellern, Comedians und Denkern suchen, um die Humor-Aktualität für die Operette wiederzufinden. Ich will die strengen Grenzen zwischen den Genres verschwimmen lassen und Synergien wachsen lassen. 

Ich glaube, dass die Volksoper alle Zutaten hat, um die Diversität der Menschen in Wien zu erreichen und die Welt zu inspirieren. Genau, wie es die Wiener Musik- und Theaterwelt immer macht."

Zur Person: Lotte de Beer

Alter: 39 Jahre, in den Niederlanden geboren. Sie studierte in Maastricht und Amsterdam. Als Regisseurin inszenierte sie u. a. im Theater an der Wien, an der Bayerischen Staatsoper und der Deutschen Oper am Rhein. De Beer setzte sich gegen 33 Mitbewerberinnen und Mitbewerber durch und übernimmt ab Herbst 2022.

Zur Volksoper

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