Traumstrand, Traumurlaub, Traumhochzeit und Traumgewicht – in den Marketingabteilungen jener Unternehmen, die mit dem Schönen Millionen zu scheffeln versuchen, weiß man schon sehr lange um die einzigartige ­Qualität des Traumhaften. Man setzt gezielt auf das nicht immer ganz ungefährliche Bündnis von Fantasie und Wirklichkeit und hofft darauf, dass es hält. Dass es einer Realität standhält, die erfahrungsgemäß dazu tendiert, sich wie ein butter­weicher ­Chocolate Chip Cookie zwischen einen selbst und jenen Diätplan zu schieben, der gerade noch in bunten Buchstaben auf billigem Prospektpapier den einfachsten Weg zur absoluten Traumfigur ­proklamierte. Wo fängt der Traum also an und wo endet er wieder? 

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In echt jetzt?

Folgende Erklärung scheint naheliegend: Dort, wo die Realität den höchstpersönlichen Traumwelten einen Strich durch die Rechnung macht, beginnt jene Lebensrealität, die je nach Bedarf mit großen und kleinen Lebensträumen angereichert werden kann. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, schwierig wird es bloß dann, wenn die Fäden zur Steuerung der zumindest partiellen Überlagerung von Traum und Wirklichkeit nicht mehr in den eigenen Händen zusammenlaufen.

Prinz Sigismund, der in Pedro Calderón de la Barcas bekanntestem Versdrama „Das Leben ein Traum“ von seinem eigenen Vater, dem König Basilius, in einen Turm verbannt und damit konsequent von der Realität ferngehalten wird, ist diesem fremdgesteuerten Wechselspiel von Realität und Fantasie permanent ausgeliefert. Nach jahrelanger Isolation wird er in betäubtem Zustand an den königlichen Hof gebracht und dort plötzlich wie ein Königssohn behandelt. Weil Sigismund, in Martin Kušejs Inszenierung von Shootingstar und Grenzüberschreiter Franz Pätzold gespielt, die Spielregeln jenes Systems nicht kennt, in das er ohne jegliche Vorbereitung hineingepflanzt wurde, gibt er sich unbeherrscht und gewalttätig. Aufgrund seines unangepassten Verhaltens wird er abermals in künstlichen Tiefschlaf versetzt und wieder in ­seinen Turm gebracht, wo man ihm suggeriert, vom Leben als Prinz nur geträumt zu haben. Bei seiner Befreiung hat er es längst aufgegeben, zwischen Wahrheit und Traum zu unterscheiden. Er weiß nun, was auch die meisten Menschen des 21. Jahrhunderts wissen: Auf die Frage „In echt jetzt?“ gibt es nur selten eine ehrliche Antwort. 

Beim Theseustempel im Volksgarten: Norman Hacker und Franz Pätzold sind ab Freitag in "Das Leben ein Traum" zu sehen.

Foto: Lukas Gansterer

Schuldfragen

Als Argumentationsgrundlage für sein eigenes Verhalten dient Basilius das Schicksal. Ein Blick in die Sterne soll ihm gezeigt haben, dass sein Sohn unberechenbar und damit zur Herrschaft ungeeignet sein würde. Bei der Kon­struktion seiner eigenen Blase, in der er als Herrscher unfehlbar und vor allem unverzichtbar ist, kommt ihm das Schicksal also gerade recht.

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Das ist auch ein Aspekt, den der gebürtige Oberösterreicher Norman Hacker, der im Stück als Basilius zu sehen ist, an seiner Rolle besonders spannend findet: „Ich frage mich, was einen Regenten dazu bringt, einen Sohn, den er zuvor jahrelang in einem Turm gefangen hielt, plötzlich zu präsentieren – außer das Protokoll oder die eigene Reduktion der Schuld. Ich denke, dass er sich über diese Figur, die der Prophezeiung zufolge ja scheitern muss, selbst wieder stärker ins Zent­rum der Macht rücken möchte. Und an genau diesem Punkt lassen sich durchaus Parallelen zu gegenwärtigen Machthabern erkennen.“

Am konzentrierten Blick des ruhigen und bedacht gestikulierenden Schauspielers lässt sich gut ablesen, dass psychologische Tiefenbohrungen dieser Art für sein Verständnis der Rolle essenziell sind. Im Gespräch bestätigt er diese Annahme: „Ich finde es auch sehr interessant, aus heutiger Sicht darüber nachzudenken, wie man damit umgeht, wenn man wissentlich Menschen von sich distanziert, wegdrückt oder ganz von sich abschneidet. Was ist das für eine Energie, die man dabei aufwenden muss, und in welcher Form meldet sie sich eines Tages wieder zurück? Vielleicht als Gefühl der Schuld, vielleicht aber auch nicht.“

Chaos im Koordinatensystem

Franz Pätzold, der ebenso wie Norman Hacker mit Beginn der Spielzeit 2019/20 ans Burgtheater wechselte, war von der inhaltlichen Wucht des Stücks überrascht, die seiner Ansicht nach auch daher rührt, dass sehr viele aktuelle Fragestellungen darin verhandelt werden. „Die Frage nach dem freien Willen, aber auch jene nach den Möglichkeiten eines gesellschaftlichen Miteinanders sind mit Sicherheit hoch­aktuell“, sagt der 31-Jährige, dessen Weggang vom Münchner Residenztheater ebendort sehr bedauert wurde.

Die unglaubliche Energie, die der junge Schauspieler auf der Bühne entwickelt, lässt sich im Laufe des Gesprächs immer wieder nur erahnen. Entspannt streift er sich die blonden Haare nach hinten, während er laut über die vermeintliche Fixiert­heit des Schicksals nachdenkt. Ob es den freien Willen nun tatsächlich gibt, möchte Franz Pätzold aber lieber nicht selbst eruieren. 

Als Schauspieler bieten wir euch ein paar Träume an, und ihr macht damit, was ihr wollt. Aber versucht nicht, uns an eurer Wirklichkeit zu messen.

Norman Hacker

„Das sollen die Philosophen und Wissenschaftler tun“, meint er lachend. „Es lebt sich viel besser, wenn ich die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit nicht permanent mit meinen persönlichen Entscheidungsfragen vermenge. Meine Entscheidung bleibt so nur eine Handlung, welche ich retro­spektiv korrigieren kann, wenn ich zum Beispiel feststelle, dass mir meine Entscheidung nicht mehr gefällt oder dass ich aus Abhängigkeiten heraus, also unfrei, gehandelt habe. Auch das ist meine Freiheit. Das finde ich tröstlich und heilsam, und genau das interessiert mich letzten Endes auch an Sigismund: Er erkennt den Schicksalsspruch nicht als den Tod seiner Freiheit an, sondern als die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit.“

Allerdings unter erschwerten Bedingungen, da ihm die Möglichkeit, zwischen Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden, permanent entzogen wird. „Er muss sich eine Welt konstru­ieren, deren Wirklichkeitsanspruch ununterbrochen von der Gesellschaft torpediert wird, sodass er irgendwann nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann. Hierbei ist er allein, es hilft ihm niemand dabei, ein stabiles Koordinatensystem für (s)eine Wirklichkeit zu konstruieren“, fasst der in Dresden geborene Schauspieler, der gerne mit James Dean verglichen wird, die fremdverschuldete Orientierungs­losigkeit seiner Figur zusammen. 

Eine Metapher auf das Theater

„Womit wir eigentlich auch wieder beim Stück selbst wären“, ergänzt ­Norman Hacker. „Denn die eine Wahrheit gibt es auch am Theater nicht, sondern nur die Möglichkeit, mehrere Lösungen ­anzubieten, unter denen sich die Zuschauerinnen und Zuschauer dann eine aussuchen können.“ Die Qualität des Theaters liege seiner Meinung nach nämlich nicht in der Produktion von Wahrheit, sondern im Zauber des Moments. 

„Auch als Schauspieler müssen wir uns unsere eigene Wirklichkeit zimmern. Als Team, welches immer auch die individuellen Wirklichkeiten zulässt und wahrt. Und nach zwei Stunden ist dann alles vorbei. Man steht da, mit nichts als einer Erinnerung. Diese Vergänglichkeit macht das Theater für mich so unglaublich romantisch und einzigartig“, fügt Franz Pätzold hinzu. 

Wenn man so will, lebt Sigismund also einen Theaterabend, der ihm als Traum erklärt wird. Auf Basis des angeblich nur Geträumten beginnt er schließlich, die eigene Realität zu hinterfragen. Und das ist, wie Norman Hacker betont, eine sehr schöne Metapher auf das Theater selbst: „Als Schauspieler bieten wir euch ein paar Träume an und ihr macht damit was ihr wollt. Aber versucht nicht, uns an eurer Wirklichkeit zu messen.“ 

Das Leben ein Traum in 5 Sätzen

1. „Das Leben ein Traum“ ist die Eröffnungs­premiere 2020/21.
2. Martin Kušej inszeniert das Versdrama von Pedro Calderón de la Barca.
3. Ein Stück zum gefährlichen Bündnis zwischen Fantasie und Wirklichkeit. 4. Uraufgeführt 1635 im Madrider Palacio Real.
5. Vorlage für Franz Grillparzers „Der Traum ein Leben“ (1840).

Zu den Personen

Norman Hacker, 58, aus Enns, wechselte nach Engagements in Hamburg (2000–2009) und München (2012–2019) nach Wien.

Franz Pätzold, 31, aus Dresden, kam ebenfalls vom Residenztheater in München und ist seit 2019/20 am Burgtheater.

"Das Leben ein Traum"

Eröffnungspremiere im Wiener Burgtheater am 11. September
burgtheater.at