„Meine Inszenierungen verteidigen die Menschlichkeit und sind Arbeit an einer humanen Gesellschaft“, sagte Regisseur und Bühnenbildner Ulrich Rasche einmal in einem Interview mit „Theater heute“. Ein Satz wie zugeschnitten auf Goethes Versdrama „Iphigenie auf Tauris“, das der deutsche Theatermacher gerade für das Akademietheater vorbereitet. Oder andersherum: ein Stück wie zugeschnitten auf das Theater Ulrich Rasches, das sich immer wieder aufs Neue am Verhältnis zwischen Individuum und Masse abarbeitet – an jenem gefährlichen Sog, der von Massenbewegungen ausgeht.

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In gewisser Weise trifft das auch auf Iphigenie zu, an der von zwei Richtungen aus gezerrt und gezogen wird. Goethes titelgebende Hauptfigur bleibt jedoch standhaft in ihrer Haltung, sich nicht sofort auf eine Seite schlagen zu müssen. „Von vier Männern und ihren Argumenten eingekesselt, hält sie die Männer schließlich dazu an, einen Schritt zurückzutreten. Sie entscheidet sich für keine Seite, sondern für Offenheit, Transparenz und den Dialog mit dem König, der sie dann in beinahe märchenhafter Weise ziehen lässt“, erläutert der Regisseur. Wobei das mit der Standhaftigkeit im Falle Ulrich Rasches nur im übertragenen Sinne zutrifft, denn wer sein Theater kennt, weiß auch, dass sich die Spieler*innen in der Regel in einem konstanten Bewegungsfluss befinden.

Gewaltspiralen durchbrechen

Bevor wir uns jedoch noch tiefer in das Land der Taurer hineinbewegen, eine wirklich kurze Zusammenfassung des Stückes: Von der Göttin Diana vor dem Tod bewahrt, findet Iphigenie Zuflucht bei Thoas, dem König der Taurer, der auch um sie wirbt. Ihr Bruder Orest versucht indes, sich vom Fluch, der auf seiner Familie lastet, zu befreien, indem er seine Schwester nach Griechenland zurückholt.

Schlussendlich sieht sich Iphigenie vor die Wahl gestellt, mit ihrem Bruder nach Hause zurückzukehren oder bei Thoas zu bleiben, dem sie sich zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet fühlt. Sie entscheidet sich dazu, Thoas ihr Heimweh nach Griechenland zu offenbaren. Dieser lässt sie schließlich ziehen.

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„Iphigenie ist die Verkörperung des Humanismus schlechthin“, findet Ulrich Rasche eindeutige Worte. Nach einer kurzen Pause setzt er fort: „Denn der Kreislauf der Gewalt wird am Ende des Stückes nicht durch ein Gerichtsurteil durchbrochen, sondern durch Iphigenie selbst. Der bis dahin gängigen Praxis gewalttätiger Konfliktlösung setzt sie Menschlichkeit, Weichheit, Offenheit, Uneigennützigkeit und eine große Portion Mut entgegen.“

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Als mutig könnte man vielleicht auch bezeichnen, dass Rasche dieses nicht allzu oft gespielte Theaterstück auf die Bühne bringt. Mit ruhiger Stimme merkt er an: „Bei dem Stück wird man immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, es sei in seinem Idealismus viel zu verträumt und realitätsfern. Wenn ich mir unsere heutige Welt ansehe, bin ich jedoch der festen Überzeugung, dass eine solche Haltung nicht nur hochaktuell, sondern auch absolut notwendig ist. Keinesfalls sollte sie verlacht werden, wie das momentan immer wieder passiert.“

Präziser Spracharbeiter

Die Frage, ob Iphigenie für ihn eine feministische Heldin sei, beantwortet Ulrich Rasche mit einem klaren Ja. Diese konzentrierte Klarheit wird sich durch den Rest unseres Gespräches ziehen. Auch die Probenatmosphäre sei davon geprägt, so Rasche. „Wir haben aber dabei Spaß. Es ist nicht so düster, wie man sich das vielleicht vorstellt“, fügt er lachend hinzu.

Dieser Konzentrationsraum verwandelt sich auf der Bühne in einen Erfahrungsraum, in dem die rhythmischen Bewegungen der Spieler*innen für das Publikum körperlich erlebbar werden. „Bei all meinen Arbeiten ist es mein Ziel, den Rhythmus der Sprache im Körper sichtbar zu machen“, so Rasche, der wohl zu den genauesten Spracharbeitern der gegenwärtigen Theaterlandschaft gehört und dessen früheste Theatererfahrungen eng mit Pina Bausch und Anne Teresa De Keersmaeker verbunden sind.

Die Bakchen
Im Bann der Bakchen. 2019 sorgte Ulrich Rasche mit seiner monumentalen Inszenierung von Euripides’ „Bakchen“ im Burgtheater für Aufsehen.

Foto: Andreas Pohlmann

Seine zu großen Teilen chorischen Arbeiten sind hochmusikalisch und bis zur letzten Silbe durchrhythmisiert, wobei der Sprachfluss der Texte den Sprech- und Bewegungsrhythmus vorgibt.

Einengung der Maschinen

Aufgrund seiner monumentalen, mit Laufbändern, Walzen und Drehscheiben ausgestatteten Bühnenbilder wurde Ulrich Rasches Theater häufig mit dem Etikett „Maschinentheater“ versehen. „Tatsächlich waren ‚Die Bakchen‘ am Burgtheater aber die letzte Produktion, bei der diese Bezeichnung zutreffend sein könnte. Neben meiner Nähe zum Tanz komme ich nämlich aus einer ganz anderen Tradition – jener des reinen Schauspiels, wie ich es unter anderem als Assistent bei Edith Clever an der Berliner Schaubühne kennengelernt habe“, rückt der Regisseur das Bild zurecht.

Weil sie ihn irgendwann gelangweilt und eingeengt haben, hat Ulrich Rasche den Einsatz großer Maschinen drastisch zurückgefahren: bühnenbildtechnisch insgesamt ziemlich zurückgeschraubt. Es interessiert ihn nicht mehr, alle ihm zur Verfügung stehenden Bühnenhebel in Bewegung zu setzen. Bei der „Iphigenie“ wird es jedoch eine fast neun Meter große Lichtskulptur geben, die wie ein Raumschiff jede Position im Raum ansteuern kann, lässt der Regisseur durchblicken.

Vielleicht so etwas wie ein Lichtblick in einer aktuell ziemlich düsteren Welt, in der wir alle vielleicht ein bisschen mehr wie Iphigenie sein sollten.

Zur Person: Ulrich Rasche

Studierte Kunstgeschichte und machte sich mit seinen formstrengen, chorischen Inszenierungen in der Theaterwelt einen Namen. Er inszenierte unter anderem am Schauspiel Frankfurt, Residenztheater München und am Staatsschauspiel Stuttgart. Dreimal war der NESTROY-Preisträger zum Berliner Theatertreffen eingeladen.