„Funken“: Die Systemsprenger
Jung. Begabt. Smart. Divers. In Till Wiebels preisgekröntem Stück „Funken“ zeigt eine Gruppe couragierter Teenager, wie weit man mit Empathie, Solidarität und Idealen kommen kann. Die Macht des Widerstands endet nicht einmal auf dem Mond.
Keine Eltern im Nacken. Niemand, der einen mit sinnbefreiten Vorschriften ins pubertäre Burnout treiben könnte. Stattdessen herrscht in diesem Ferienlager die pure juvenile Autonomie. Zumindest scheint es so. Alle Kids verfügen über außergewöhnliche Fähigkeiten und sind angehalten, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Sie sind hier auf Einladung von Arthur McPush – einem mysteriösen Weltwirtschaftsboss. Er ist lediglich mit seiner Stimme anwesend und wacht in Big-Brother-Manier über allem. Von Zeit zu Zeit müssen ihm die Kinder Bericht erstatten. In Wirklichkeit will er ihre Talente nutzen, um eine neue Zivilisation fern der Erde zu begründen.
Warum sie im Camp sind, wissen sie aber nicht genau. Erst später werden sie erfahren, dass ihre Eltern sie verkauft haben. Im Zentrum des Teenager-Geschehens stehen Shawn Baker, extravertierter Künstler mit hohem Glamfaktor; Wetterphänomen-Wunderkind Twinkle; Isilda, eine Weltreisende mit vielen Vergangenheiten, die an einem streng geheimen Projekt arbeitet; und als Letztankömmling Malte Schröder, ein Junge ohne Spezialgebiet: Norm und Durchschnitt in einer Person.
Der Autor
Ausgedacht hat sich diese zwischen Selbstermächtigung und Orwell changierende Geschichte, die in einem echten Showdown endet, der deutsche Autor Till Wiebel. Welche Idee liegt der ebenso ideenreichen wie intelligenten Handlung zugrunde?
„Für mich mischen sich in der Erzählsituation verschiedene Anliegen und Ideen. Einerseits war ich in meiner Jugend selbst immer wieder in Ferienlagern und habe diesen Erfahrungsraum als sehr prägend empfunden, weil er dem Alltag und dem Zuhause so fern ist. Die Erwachsenen habe ich rausgelassen, um einen utopischen Raum beschreibbar zu machen, in dem Kinder untereinander gut zueinander sind. Es gibt ja viele erwachsene Fantasien, in denen Kinder einander Gewalt antun, wenn sie unbeobachtet sind. Dazu wollte ich einen Gegenentwurf machen. Wenn in dieser Welt ohne Erwachsene ein liebevolles, solidarisches und kreatives Miteinander möglich ist, dann verschiebt sich die Frage, wer das Problem ist.“
Man müsse nicht zwingend selbst jung sein – Till Wiebel ist dreißig –, um für ein jugendliches Publikum schreiben zu können. „Man sollte sich aber auch nichts drauf einbilden, alt zu sein.“ Das Stück enthält viele Informationen aus unterschiedlichen Themengebieten. Wie viel Zeit nahm die Recherche dafür in Anspruch? „Diese erfolgt eigentlich immer parallel zum Schreibprozess. Da landet man dann plötzlich in sehr unterschiedlichen Ecken des Internets und muss aufpassen, dass man wieder den Weg zurück ins Textdokument findet und sich nicht noch mehr Videos über Verfahren der Wolkenbildung oder Eiskunstlauf in den neunziger Jahren anschaut.“
Dass man bei Arthur McPush an Elon Musk denkt, sei kein Zufall. „In der Figur mischen sich für mich verschiedene prominente Vorbilder von Männern mit zu viel Macht und zu viel Geld.“
Die Regisseurin
Karin Drechsel inszeniert bereits zum dritten Mal am TdJ. Die Stärken des Textes hätten sie sofort überzeugt. „Till Wiebel schafft es, relevante Themen wie Identität, Zugehörigkeit oder Vorurteile zu setzen, dabei humorvoll und direkt im Dialog zu sein und mit ungewöhnlichen Wendungen zu überraschen. Erst glaubt man ja, eine interessante Coming-of-Age-Geschichte erzählt zu bekommen, in der ein Außenseiter allmählich Teil der Clique wird, nur unter Umkehrung der Vorzeichen: Die Nerds sind in der Überzahl, und der ‚Normale‘ ist der Fremde. Und dann kippt sie von der Dystopie eines Überwachungsstaates in eine utopische Science-Fiction-Erzählung. Was für eine Kurve!“
Das Stück werfe die essenziellsten Fragen über unsere Gegenwart und Zukunft auf. „Wie werden wir überleben? Durch autoritäre Elitenbildung oder durch Demokratie, Schwarmintelligenz und Mitmenschlichkeit? Was sind Normen, und wofür brauchen wir sie? Welche Werte sind überhaupt noch von Bedeutung?“ Interessant sei es auch, über den Titel nachzudenken. „Es braucht einen Funken, um etwas niederzubrennen. Es braucht einen Funken, um Energie für einen Neubeginn zu erzeugen. Ein Funke soll überspringen. Und es braucht immer einen Funken Hoffnung – ohne den sieht man keine Perspektive. Ich denke, in dieser komplexen Weltsituation können wir alle diesen Funken gut gebrauchen!“
Die Persönlichkeiten im Stück sind vielschichtig und lebendig charakterisiert. Was prädestiniert Mino Dreier, Paul Winkler, Una Nowak und Olivia Marie Purka für ihre jeweilige Rolle? Karin Drechsel: „Alle vier zeichnet aus, dass sie ungewöhnlich begabt sind, kraftvoll und offen. Sie sind daran interessiert, durch ihr Spiel komplexe Botschaften und Einsichten in die Welt zu senden. Sie haben sich explizit für die Figuren beworben, die sie spielen. Ich denke, allen gemeinsam ist ein Bekenntnis zur Diversität.“
Wir sollten uns langsam vom fest verankerten binären Geschlechterdenken am deutschsprachigen Theater verabschieden.
Una Nowak, Schauspieler*in
Paul Winkler / Shawn Baker
Cyndi Laupers „Time After Time“ in eigener Interpretation war im Alter von 12 Jahren Paul Winklers erste Bühnenerfahrung und zugleich Initialzündung für den Beruf des Schauspielers. Es sei vor allem ein Satz gewesen, der ihn bei der Lektüre von „Funken“ angesprochen – und von der Rolle des Shawn Baker überzeugt – habe.
„Als er gefragt wird, warum es immer um ihn gehen müsse, antwortet er: ‚Ich habe mich mein ganzes Leben lang versteckt, da ist einiges nachzuholen. Ich habe keine Angst mehr, ich zu sein.‘ Neben dem Lauten und Glamourösen gibt es also auch den weichen Kern, das Zerbrechliche, durch das er gegangen ist. Daran konnte ich als schwuler Mann, der im Leben ebenfalls schon Hürden zu meistern hatte, anknüpfen. Ich finde es schön, eine so wichtige Message an das junge Publikum weitertragen zu dürfen: Vertrau so früh wie möglich dem, der du bist. Sei einfach du, auch wenn man dich kleinreden will. Denn du wirst Leute finden, die dich genau so lieben, wie du bist. Je früher man das lernt, desto größer sind die Möglichkeiten für einen.“
Zur Person: Paul Winkler
Geboren in Wien, studierte er an der MUK und spielte noch während seiner Ausbildung die Hauptrolle in „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ am TdJ sowie den Rekruten Kren im Kinodrama „Eismayer“. Heuer war er bei den Salzburger Festspielen Teil der „Jedermann“-Tischgesellschaft und sprang für den erkrankten Tod-Darsteller Dominik Dos-Reis ein.
Eine friedliche, solidarische Kinderwelt, wie Till Wiebel sie so aufregend beschreibt, sei seiner Meinung nach tatsächlich möglich. „Diskriminierung und Vorurteile sind nicht angeboren. Kein Kind kommt mit rassistischen oder homophoben Gedanken zur Welt. Ich glaube, dass der Hass in Erwachsenen nur dadurch entsteht, dass sie verletzte Kinder sind und ihre eigenen Verletzungen leider weitergeben, anstatt sie zum Beispiel in Therapien zu verarbeiten.“ Er selbst fühle sich seit dem Schauspielstudium, das er heuer abschloss – „und das im Grunde nichts anderes ist als die Suche nach dem inneren Kind“ –, wieder mehr verbunden mit dem kleinen Paul.
Una Nowak / Twinkle
Wiewohl Una Nowak bereits mit sechs Jahren auf der Bühne stehen wollte, gab es einige Umwege, ehe erst ein englischsprachiges Schauspielstudium an der English Theatre Academy (mit Abschluss) anstand, dem aktuell im zweiten Ausbildungsjahr ein deutschsprachiges an der MUK folgt. Der Traum sei eine internationale Laufbahn.
„Ich glaube, dass das auch die Zukunft in unserem Beruf ist, anders geht es nicht. Ich finde es bereichernd, in beiden Sprachen fließend arbeiten zu können.“ Das Engagement am TdJ kam über ein Vorsprechen. „Mit Twinkle kann ich mich deshalb gut identifizieren, weil dieser Charakter so wahnsinnig begeisterungsfähig und enthusiastisch, zugleich aber auch präzise und genau ist. Das bin ich auch. Twinkle hat zudem diese kindliche Energie, und das alles miteinander zu verbinden macht enormen Spaß.“
Wie findet Una den kompetitiven Aspekt des Berufs, bei dem es darum geht, Rollen an Land zu ziehen? „Anstrengend. Dieser Druck ist immer da, ich denke aber, dass der Austausch unter Schauspieler*innen in den letzten Jahren viel besser geworden ist. Man macht sich gegenseitig weniger madig, es gibt viel mehr Netzwerke.“
In der Branche bemühe man sich zwar sehr im Umgang mit nichtbinären Menschen, „aber dadurch, dass es im Deutschen kaum Begrifflichkeiten dafür gibt, tun sich viele noch ein bisschen schwer damit. Wir sollten uns langsam vom fest verankerten binären Geschlechterdenken am deutschsprachigen Theater verabschieden. Das müsste nicht sein, denn es gibt so viele Rollen, die wunderbar von genderneutralen Personen gespielt werden können.“ Außerdem: Als Schauspieler*in sei man befähigt, alles spielen zu können.
Zur Person: Una Nowak
Auch Una identifiziert sich als nichtbinär, kam in Wien zur Welt, lebte u. a. in Schweden und Kalifornien, studierte erst Schauspiel an der English Theatre Academy (Diplom) und befindet sich nun im zweiten Ausbildungsjahr an der MUK. Una spielte u. a. in „WO-MAN: A revolutionary Rave“ im Dschungel Wien und verkörperte Charlie in der Streaming-Serie „Sexplanation“ auf Canal+.
Olivia Marie Purka / Isilda
Das bekräftigt auch Olivia, ebenfalls nichtbinär. Beinahe wäre es eine Karriere als Rechtsaußen im Profifußball geworden, erst nach einem freiwilligen sozialen Jahr in Peru brach sich der Kindheitstraum Schauspieler*in erneut Bahn. Olivia war mit Paul Winkler in einem MUK-Jahrgang und schloss das Schauspielstudium heuer ab.
Performativen Konzepten sehr aufgeschlossen und mit Mut zum Handeln gab Olivia zu Lockdown-Zeiten die Initialzündung für die künstlerische Bewegung namens „Die Bühne“, die – mit Wien und Berlin – in zwölf deutschsprachigen Städten auftrat. „Künstler*innen verbanden sich, um zeitgleich in verschiedenen Städten auf improvisierten Bühnen vor geschlossenen Häusern zu spielen. Die Häuser spendeten Strom. Das Ganze wurde schnell groß.“
An Isilda in „Funken“, die sich (ohne dass wir hier spoilern) am Ende als besonderes Ingenieurstalent entpuppt, sei vieles faszinierend. „Sie ist unabhängig, weltreisend, kämpferisch. Eine moderne Jeanne d’Arc, die sich von nichts beirren lässt, aber auch Werte hat. Sobald eine bestimmte Grenze überschritten wird, macht sie nicht mehr mit. Sie weiß, wann es richtig ist, den Ort zu verlassen, und das, finde ich, ist eine sehr große Stärke.“
Wo sieht Olivia sich in Zukunft? An einem Theater? Beim Film? Oder doch als Projektleiter*in in eigener künstlerischer Sache? „Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist eine gute Idee, sein Schicksal manchmal selbst in die Hand zu nehmen und zu schauen, was mit den Gegebenheiten, die da sind, möglich ist. Ich sehe mich Texte schreiben, ich liebe es, zu singen. Ich bin aber auch sehr offen für Theater, ich habe große Lust, in einem festen Ensemble zu spielen. Am Film finde ich wiederum toll, dass man dermaßen psychologisch arbeiten kann.“ Erfrischender Nachsatz: „Mir steht die Welt offen!“
Zur Person: Olivia Marie Purka
Olivia identifiziert sich als nichtbinär, wollte Fußballer*in werden, entdeckte schließlich das Schauspiel für sich und studierte an der MUK. Während der Pandemie stellte Olivia ein eigenes Projekt auf die Beine und trat gemeinsam mit Kolleg*innen vor Kulturinstitutionen auf. Er/sie spielte u. a. in der Drachengasse-Produktion „So forsch, so furchtlos“ die Rolle der Shit und Lindy Bacroff in der ZDF-Doku „Rosa Winkel“.
Mino Dreier / Malte Schröder
Der Absolvent des Lycée français de Vienne kam auf ungewöhnliche Art zum Theater. „Es war der letzte Versuch meiner Eltern, mich außerschulisch für etwas zu begeistern, denn ich habe weder Sport gemacht, noch ein Instrument gespielt – nicht aus Desinteresse, sondern weil ich immer alles sofort können wollte. Ich war schüchtern, introvertiert, und der Gedanke, mich auf eine Bühne zu stellen, schien mir absurd.“ Mit den Jahren entwickelte sich daraus jedoch eine echte Leidenschaft – und seit 2022 studiert er nun an der Schauspielschule Krauss. In „Funken“ spielt er Malte, der als „durchschnittlichster Teenager der Welt“ bezeichnet wird.
„Was eine Norm ist, lässt sich wunderbar wissenschaftlich beantworten. Das passiert im Stück auch. Mich hat aber interessiert, wie subjektiv der Begriff ‚normal‘ ist, denn eine kulturelle Norm, die für einen Menschen auf dieser Seite der Welt gilt, ist möglicherweise völlig verrückt für einen Menschen, der auf der anderen Seite der Erdkugel aufgewachsen ist. Und wie auch Maltes Normalität in diesem Umfeld zur Abnormalität wird, ist sehr interessant.“
So viel sei verraten: Am Ende gibt es eine Reise zum Mond. Dann brechen die Jugendlichen aus dem System, das ihnen ihre fantastischen Möglichkeiten nur zur Gewinnmaximierung vorgaukelt, aus. Sie sprengen es.
Im (Schnee-)Gestöber der Vielfalt
Das Theater der Jugend kann nicht nur jederzeit Winter zaubern. Es bringt in der Saison neben echten Klassikern wie „Heidi“ und „Emil und die Detektive“ ein Musical, eine Wrestler-Götter-Show und Tonio Schachingers Bestseller auf die Bühne. Ein Überblick. Weiterlesen...
Könnte er sich eine Fortsetzung vorstellen, wie es im Stück einmal angedeutet wird? „Ich würde das, ehrlich gesagt, nicht wollen. Jugendliche sollen mit dem Gedanken nach Hause gehen, dass sie alle Möglichkeiten haben. Wir wollen ihnen einen Schubser geben, ihnen aber kein konkretes Ziel vorschreiben. Sie haben ein Recht auf Selbstermächtigung, denn sie sind die Zukunft. Und durch das offene Ende wird genau das schön unterstrichen.“
Zur Person: Mino Dreier
Der gebürtige Wiener studiert aktuell an der Schauspielschule Krauss, wo er 2025 seinen Abschluss machen wird. Er war in „PROTESTANTEN vertreibung aus der heimath“ des Autors und Nestroy-Preisträgers Thomas Perle zu sehen, drehte Kurzfilme sowie Werbespots und spielte in der ORF-Serie „School of Champions“ die Rolle des Hugo.